Säkularkanoniker

Säkularkanoniker

Säkularkanoniker sind heutzutage zu einer seltenen „Species“ von Klerikern geworden. Schon lange kennen die meisten von uns Kanoniker nur als regulierte Chorherren, also Ordensleute mit Gelübden, oder als Domherren einer Kathedrale. Dabei handelt es sich oft um ältere Geistliche, deren Zahl vor allem im Ausland stetig abnimmt: In vielen Kathedralen in Europa bleibt das prächtige Chorgestühl heute zumeist unbesetzt. In der Kirchengeschichte reduziert sich das kanonikale Leben nicht nur auf diese bekannteste Form. Jüngere Forschungen offenbaren eine große Vielfalt von Kanonikern, entsprechend angepasst an die jeweiligen historischen, materiellen und pastoralen Gegebenheiten in der Kirche. Während vieler Jahrhunderte lässt sich die katholische Kultur nicht vorstellen ohne den wichtigen Beitrag, den die verschiedenen Formen des kanonikalen Lebens dazu leisten.

Ein Leben in Gemeinschaft

Alle Formen des Gemeinschaftslebens in der Kirche beziehen sich auf das Leben Unseres Herrn mit seinen Jüngern. Man erkennt im kanonikalen Leben in den wesentlichen Aspekten die Gemeinschaft des Kollegiums der Zwölf mit ihrem Meister wieder, vor allem in Bezug auf das Gebet und die Tischgemeinschaft, wie auch oft in einer gewissen Güterteilung. Dieses Leben fand seinen Widerhall im apostolischen Leben der Jünger und der ersten Christen, das in der Entwicklung des religiösen und auch kanonikalen Lebens immer ein Ideal blieb. Die ersten säkularen Priestergemeinschaften, die die Nachfolge dieses apostolischen Lebens anstrebten, scheinen schon im 4. und 5. Jahrhundert auf, oft im Umfeld der Bischöfe und ihrer Kathedralen. Die berühmteste unter diesen Gemeinschaften entstand um den hl. Augustinus. Der Begriff ‚Kanonikus‘ findet sich allerdings erst ab dem 6. Jahrhundert.

Eine feierliche Liturgie zur Verherrlichung Gottes mitten unter den Menschen

Der hl. Chrodegang und seine Regel

Oft noch mit eigentlichen Ordensleuten vermischt, etablierten sich diese Gruppen nach und nach in den Städten. Sie wurden gegen Ende des 8. Jahrhunderts von großen Gestalten, wie dem hl. Bonifatius oder dem hl. Chrodegang, gefördert. Letzterer schrieb auch eine Regel für die Kanoniker seiner Diözese Metz.  Schließlich wollte im Jahre 816 das Konzil von Aachen, das von Ludwig dem Frommen, einem Sohn Karls des Großen, geleitet wurde, die schon bestehenden kanonikalen Formen einer allgemeinen Regelung unterwerfen. Es entstand ein Ordo Canonicorum, eine Lebensform für die Kanoniker, die für den Säkularklerus das sein sollte, was der Ordo Monachorum für die Religiosen war.

Im Unterschied von der Weltabgewandheit der damaligen Mönche stand für die Säkularkanoniker die feierliche Liturgie inmitten der Welt mit einem Schwerpunkt auf der Seelsorge im Vordergrund, getragen von einer weniger strengen Lebensregel, die v.a. zu keinem Armutsgelübde verpflichtete. Von nun an ist der Charakter des kanonikalen Lebens ganz klar als säkular definiert; allerdings bleibt der Kult zur Verherrlichung Gottes inmitten der Welt zentral und lebensbestimmend.

Säkularkanoniker von St. Georg in Alga in blau

Bei der sogenannten Gregorianischen Reform erfuhr das kanonikale Leben eine weitere Entwicklung, die sich aus den neuen Ansätzen des 11. und 12. Jhdts. herleiten lässt. Sie führte zur Existenz einer weiteren Form des kanonikalen Lebens. Manche Kanonikergemeinschaften legen nun feierliche Gelübde ab, die persönliche Armut und die Regel eines strengeren Lebens einschließen. Diese ‚Regularkanoniker‘ beziehen sich auf die ‚Augustinusregel‘ und schließen sich in verschiedenen Familien zusammen, von denen noch heute nicht wenige fortbestehen. Sie leben normalerweise in Abteien unter der Autorität eines Oberen und bilden Priestergemeinschaften. Wie die Säkular- Kanoniker pflegen sie eine feierliche Liturgie mit einem Augenmerk auf der Pastoral und engagieren sich im Unterschied zu den kontemplativen Mönchen in der Seelsorge. Sie sind, anders als die Säkularkanoniker, Ordensleute mit Gelübden im eigentlichen Sinn.

Innerhalb der Säkular-Kanoniker gab es wiederum eine Entwicklung, vor allem in Hinblick auf das Benefizialsystem, das sich in jener Zeit für die Sicherung des Lebensunterhaltes der Weltkleriker in der ganzen Kirche durchsetzte. Die Kapitel der Kathedralen begannen, eigene Güter zu besitzen, wodurch man jedem Kanoniker ein Benefizium verleihen und somit seinen Unterhalt gewährleisten konnte. Daneben gab es auch in den Kollegialkirchen individuelle oder gemeinsame Benefizien, die im Laufe der Zeit von Wohltätern gestiftet wurden. Die Kollegialkirchen verfügten über ihre eigenen Kapitel und Kanoniker, die dem Volk die feierliche Liturgie zugänglich machten, Schulen leiteten oder sich um andere pastorale oder kulturelle Aufgaben bemühten. So fanden sich in fast allen Städten Kanonikerkapitel, die wesentlich zu der Entwicklung der katholischen Kultur in verschiedenen Bereichen beitrugen. Bis zum 16. Jh. kann man in diesen Kapiteln noch Spuren des Gemeinschaftslebens finden, besonders die Tischgemeinschaft, aber die meisten der Kanoniker lebten schon in eigenen Häusern, meist rund um die Kathedrale oder Kollegiatskirche. Die einzige regelmäßige gemeinsame Aktivität blieb die Liturgie, der sie selbst in Zeiten des Verfalls treu blieben, auch wenn sie sich nicht selten durch Vikare helfen ließen, die sie bei dem Chordienst ersetzten. Die Mehrzahl der Städte wurden durch die Anwesenheit von Kanonikern stark geprägt, sei es in religiöser, intellektueller oder künstlerischer Hinsicht.

Natürlich hat das Leben der Säkularkanoniker, ebenso wie das der Mönche und Regularkanoniker, im Lauf der Geschichte Höhen und Tiefen erfahren. Es gab zahlreiche Reformen, die die Kapitel betrafen: Eine große Anzahl von ihnen wurde, um eine Verweltlichung zu vermeiden, reguliert, nahmen also Gelübde an, andere wurden aus Mangel der notwendigen Lebensgrundlage abgeschafft oder wieder andere konnten in wechselvollen Zeiten von Krieg oder Revolution nicht überleben. Die Reformversuche des kanonikalen Lebens führten im 15. Jh. zu dem Wunsch bestimmter Säkularkanonikergemeinschaften, das Gemeinschaftsleben wiederaufleben zu lassen. Die Kanoniker der Kongregation des hl. Georg in Alga bei Venedig, zu der der erste Patriarch von Venedig, der hl. Laurentius Justiniani, gehörte, stellten sich unter die Autorität eines einzigen Oberen und besaßen die Benefizien ihrer Kirchen gemeinsam. Sie haben auch andere zentralisierte Kongregationen von Säkularkanonikern beeinflusst. Die letzte dieser Säkularkanonikergemeinschaften wurde 1835 in Portugal im Zuge einer Säkularisierung der Kirchengüter aufgelöst.

Eine flexible Lebensform

Dieser kurze und sehr allgemein gehaltene historische Abriss zeigt, dass der Begriff des kanonikalen Lebens stets sehr dehnbar war. Die beiden Hauptstränge – die säkularen und die regulierten Kanoniker – haben sich jeweils in verschiedene Familien verzweigt, mit ihren jeweils besonderen Charakteristika. Seitens der Säkularkanoniker finden wir die Kanoniker der Kathedralen oder der Stifts- bzw. Kollegiatskirchen, aber eben auch jene Säkularkanonikergemeinschaften. Sie alle haben sich der Pflege der feierlichen Liturgie verschrieben, um in der Welt eine übernatürliche Brücke zwischen Gott und dem christlichen Volk zu bauen. In diese Tradition wollte der Heilige Stuhl das Institut Christus König und Hohepriester einfügen, indem er diesem am Rosenkranzfest 2008 den Status einer „Gesellschaft Apostolischen Lebens in kanonikaler Form“ verlieh. Dieses Leben ad instar canonicorum, d.h. nach der wesentlichen Gestalt der Säkularkanoniker im Lauf der Kirchengeschichte, wurde vom Heiligen Stuhl am 29. Januar 2016 zusammen mit dem Titel ‚Kanonikus‘ definitiv bestätigt, und zwar anlässlich des 25jährigen Bestehens des Institutes Christus König. Durch diese Anerkennung zeigt die Kirche, dass ihre Geschichte immer lebendig bleibt. Die kanonikale Wirklichkeit, die ganz im Dienst der Liturgie steht, um Gott in der Welt zu verherrlichen, ist anpassungsfähig genug, um auch in der heutigen Welt wieder einen wirklichen Platz einnehmen zu können.

Msgr. R. Michael Schmitz