Für eine Mutter bleibt jeder immer ein Kind. Deswegen ist der Tod einer geliebten und guten Mutter auch der Moment, wo wir alle den endgültigen Schritt in das Erwachsensein tun. Die Mutter ist immer an unserer Seite gewesen. Die Mutter hat uns von dem, was wir sind und was wir haben, fast alles gegeben. Deswegen ist eine gute und liebende Mutter, so wie die Ihre, lieber Kanonikus, mit der Kirche zu vergleichen.
Die Mutter gibt uns am Anfang des Lebens das physische Leben. Sie gibt uns, indem sie uns neun Monate unter ihrem Herzen trägt, ihr eigenes Blut und ihr eigenes Fleisch. Wir wachsen in ihr und mit ihr, und schließlich gebiert sie uns in diese Welt hinein. Ohne die Mutter, die sich dem Vater öffnet und die ihr ganzes Leben mit uns teilt, wären wir nichts.
So ist es auch mit der Kirche. Sie gebiert uns zum Leben mit Gott; sie nimmt uns auf in ihren heiligen Leib; sie lässt uns durch die Gnade in ihm wachsen und sie schenkt uns gleichsam ihr eigenes Leben, das sie von Christus empfangen hat, damit wir vor Gott und in der Ewigkeit Menschen bleiben, die in der Gnade leben und durch die Gnade gerettet werden. So wie wir unser physisches Leben von der guten Mutter erhalten, so gibt uns die Kirche alles, was wir benötigen, um mit und in Gott zu leben.
Doch nicht nur das. Eine gute Mutter kümmert sich ebenso immer um unser Wohl. Sie gibt uns von Anfang an alles, was wir zum täglichen Leben brauchen. Die eigene Milch, später die weitere Nahrung, die Bekleidung, sie kennt alles genau, was wir brauchen, und selbst wenn wir erwachsen sind, ist es die Mutter, die sich am allermeisten um unser Wohlergehen und um unser leibliches Wohl sorgt und aus dieser Sorge handelt.
Genauso wiederum die Kirche: Sie gibt uns in den sieben Sakramenten eine Nahrung, die uns ein ganzes Leben lang auf verschiedene Weise nährt und begleitet von der Wiege bis zur Bahre. Sie kümmert sich um unser geistiges Wohl, das, wenn wir es pflegen, auch unserem leiblichen Wohl hilft. Die Kirche ist bei uns und kümmert sich wie niemand anderes um uns, so sehr, dass sie die Einzige ist, die uns, anders als die leibliche Mutter, selbst über unseren Tod hinaus noch begleiten und beschützen kann.
Eine gute Mutter aber gibt uns nicht Nahrung, die Mutter lehrt uns auch: Sie lehrt uns die ersten Gebete; sie lehrt uns die vielen wichtigen Kleinigkeiten des Lebens; sie lehrt uns, wenn wir langsam anfangen zu lesen und zu schreiben; sie gibt uns viel persönliche Weisheit und Erfahrung weiter; sie lehrt uns das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, die Lüge zu meiden und das Böse zu hassen. Die Mutter ist unsere erste Lehrerin.
So wie die Mutter, so lehrt uns auch die Kirche. Sie ist mater et magistra, Mutter und Lehrerin: durch die Offenbarung, die sie von Christus erhalten hat; durch die Gebote, die sie uns zu unserem Heil weitergibt; durch all die Lehren, die sie im Lehramt und im Katechismus bewahrend überliefert, damit wir nicht in die Irre gehen, damit wir das Wahre vom Falschen zu unterscheiden wissen, und damit wir, ihrer Lehre folgend, den Weg finden zu ihrem Sohn Jesus Christus, der uns liebt und rettet.
Die leibliche Mutter lehrt uns auch Disziplin. Sie lebt uns vor und lehrt uns vieles, was wir ein ganzes Leben lang tun, vieles, das die Ordnung in unserem Leben aufrechterhält, auch dann, wenn es schwierig ist. Vieles, was wir an guten, schönen und heiligen Gewohnheiten kennen, haben wir von unserer Mutter gelernt. Sie hat uns gelehrt, wie wir richtig essen sollen; sie hat uns gelehrt, wie wir uns anderen gegenüber respektvoll verhalten sollen; sie hat uns gelehrt, was sie aus ihrem eigenen Lebensschatz erfahren hat, damit wir auch in der Welt zurechtkommen und gute und gerechte Menschen werden. Vor allem aber lehrt sie uns beten!
Auch in diesem Fall ist die gute Mutter mit der Kirche zu vergleichen, denn die Kirche lehrt uns die Disziplin und Ordnung Gottes. Auch sie lehrt uns beten! Sie begleitet uns auf unserem Lebensweg, und immer dann, wenn wir zu straucheln drohen, ist ihre mütterliche Hand dabei, uns wieder in die Ordnung Gottes einzufügen und uns zu zeigen, wie Gott unser Leben lenken will. Sie zeigt uns, dass Gott uns Sein Vertrauen nach einem bereuten Fall wieder schenken will, damit wir Seiner weisen Lenkung folgen und treue Kinder der Kirche bleiben. Die Kirche kennt keine harte Disziplin, so wie die Strafen einer guten Mutter niemals hart sind. Wie die leibliche Mutter besitzt die Kirche eine heilsame Disziplin, die den Sünder wohl manchmal schmerzt, die uns aber dahinführt, zu tun und anzunehmen, was gut für uns ist und was Christus zu unserem Heile für uns will.
Heute ist es besonders tröstlich, daran zu denken, dass die gute Mutter mit der Kirche ein weiteres Wichtiges gemeinsam hat, nämlich das Gebet für ihre Kinder. Die gute Mutter betet ein ganzes Leben für uns. Sie lässt uns im Gebet nie allein; sie denkt an ihre Kinder; sie denkt an sie in Schwierigkeiten; sie denkt an sie immer dann, wenn sie des Gebetes bedürfen und es gibt wohl keine christliche Mutter, die einschläft, ohne nochmals für alle ihre Kinder gebetet zu haben.
So macht es auch die Kirche. Sie betet für uns ohne Unterlass, sie betet für alle ihre Kinder auf dem ganzen Erdkreis, vor allen Dingen für diejenigen, die es besonders schwer haben. Die Kirche opfert für sie ohne Unterlass! Sie opfert für sie das eine, heilige Dank- und Sühneopfer, ohne das wir gar nicht mit Gott leben könnten und ohne das wir nicht gerettet werden könnten. Die Gebete der Kirche – wie die Gebete einer guten Mutter – hören niemals auf und sie begleiten uns in die Ewigkeit. So wie eine Mutter für ihre lebenden und verstorbenen Kinder beten wird, ob sie nun selbst noch auf Erden oder schon in der Ewigkeit ist, so betet auch die Kirche allezeit weiter für diejenigen, die aus diesem irdischen Leben geschieden sind, damit sie baldmöglichst die Herrlichkeit sehen können, auf die sie sie ein ganzes Leben durch ihre Mutterliebe vorbereitet hat.
So ist es an diesem Abend, wo wir Ihrer verstorbenen Mutter Francis gedenken, lieber Herr Kanonikus, besonders tröstlich für Sie selbst, aber auch für ihre Mutter, die ihnen in die Ewigkeit vorausgegangen ist, dass Sie sich entschieden haben, der Berufung Gottes zu folgen und ein Sohn der Kirche zu werden. Ihre leibliche Mutter wird Sie auch jetzt nicht verlassen und weiter für Sie beten, weil sie weiterhin die Mutter ist, die Sie liebt und Ihnen nahesteht, obwohl Sie Ihnen nun nicht mehr auf Erden nahe sein kann. Ihre Mutter und Sie selbst aber werden dadurch getröstet, dass Sie nun hier auf Erden eine noch größere, eine noch gnadenvollere, eine noch mehr mit Christus verbundene Mutter bekommen haben, nämlich die heilige Kirche, deren treuer Sohn Sie sind. Die Mutter Kirche aber wird Sie, wenn Sie wie Ihre leibliche Mutter ein ganzes Leben lang Ihre Pflicht tun und die Liebe Christi leben, dahin bringen, wo Christus, der ewige Hohepriester, Sie immer schon erwartet. Dort werden Sie beide Mütter wiederfinden, Ihre liebe, gute Mutter Francis und das himmlische Jerusalem, das die ewige Kirche ist. Amen.