Predigt Msgr. Prof.DDr. Rudolf Michael Schmitz am Fest der Unbefleckten Empfängnis, dem 8. Dezember 2022

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

„Ein unbeschriebenes Blatt!“ Wenn man das von einem Menschen sagt, dann meint man, dass er keine große Vorgeschichte hat, dass er in seinem Leben vor allem nichts Böses getan hat, dass man ihm nichts vorwerfen kann, dass sein ganzes Leben noch vor ihm liegt, dass er offenbar als ein guter, ja ein heiligmäßiger Mensch erscheint.

Die Allerseligste Jungfrau ist das unbeschriebenste Blatt, das wir uns vorstellen können. Ein ganz weißes Blatt, ein reines Blatt, ein wunderbar schönes Blatt, das Gott selbst wie das feinste Büttenpapier geschöpft hat, damit Er auf ihm jenen einzigartigen Vertrag schreiben kann, mit dem Er von neuem unser Heil ermöglicht. Dieser Vertrag ist kein Vertrag unter Gleichen, denn Gott gibt alles, und wir empfangen alles. Er gibt vor aller Zeit in Seinem göttlichen Plan alles der Gottesmutter, die voll der Gnade ist, und macht sie zu diesem ganz reinen Blatt, auf dem nur Er schreiben kann. Er gibt alles damit aber auch der Menschheit: Eine neue Zukunft, eine neue Hoffnung, weil auf diesem reinen und unbefleckten Blatt mit goldenen göttlichen Lettern geschrieben steht: „Ich werde euch erlösen.“

Der Moment, in dem dieses weiße Blatt der Seele der reinsten Jungfrau Maria beschrieben wird, ist die Empfängnis ihres Sohnes. Sie selbst, ganz unbefleckt empfangen im Schoße ihrer Mutter Anna, empfängt ebenso ohne Makel in ihrem Schoß das göttliche Wort, jenes Wort, das sie allein aufnehmen kann, jenes Wort, das den Vertrag verwirklicht, den Gott selbst eingeht, als Er in Ihrem Schoß Mensch wird. Mit goldenen Lettern wird wiederum geschrieben: „Ich bin Emmanuel, der Gott mit euch, und Ich bin so sehr mit euch, dass Ich im Schoße einer Jungfrau selbst einer von euch werde, nämlich Mensch wie ihr.“

Jeder Vertrag aber braucht ein Siegel. Der Siegelsetzer ist in diesem Fall nicht irgendein Notar und ein anderer Beamter, sondern es ist Gott selbst. Das Siegel, das unter dieses reine Blatt, makellos von Anfang an, gesetzt wird, das unter diesem Vertrag, der durch das göttliche Wort in ihren Leib geschrieben wird, erscheint, ist die Geburt unseres Herrn Jesus Christus. Der Herr kommt in diese Welt gleichsam als das Abschlusssiegel unter jenen feierlich verfügten Willen Gottes, der uns selbst mit Seinem Sohn die Rettung bringt. Maria, ganz reines Dokument der göttlichen Gnade, beschrieben nur durch das Wort Gottes, wird durch diese Geburt besiegelt und es wird allen klar: Sie ist nicht nur die Unbefleckt Empfangene, sie trägt nicht nur das Wort Gottes in ihrem Schoße, sondern sie wird auch tatsächlich und leiblich durch die Fülle der Gnade, die nur ihr geschenkt ist, die Mutter des allmächtigen Gottes. Dieses Siegel der Erlösung wird in der Krippe für uns alle sichtbar!

Aber jeder Vertrag heischt nach Erfüllung. Das unbefleckte Blatt, die goldene Schrift, das wunderbare Siegel, alles das könnte ornamentales Werk sein, wenn es von Menschen käme, und zu weiter nichts führen. Wie viele menschliche Verträge sind in der Geschichte nicht schon gebrochen worden, obwohl mit goldenen Buchstaben auf Pergament geschrieben und mit schweren Siegeln bewehrt. Aber Gott bleibt treu! Er bereitet nicht nur das herrliche Dokument der Gnade vor, Er beschreibt nicht nur das unschuldig weiße Blatt mit Seinem Ewigen Wort, Er besiegelt es nicht nur durch Sein Kommen in die Welt in der Geburt zu Bethlehem, sondern Er erfüllt auch diesen Vertrag in der harten Stunde des Kreuzes, in der Er für uns alle das Dokument unserer Erlösung nicht nur in goldenen göttlichen Lettern, sondern mit seinem eigenen menschlichen Blut unterschreibt und Sich hingibt für unsere Sünden, für unsere Erbärmlichkeit und für unsere endgültige Erlösung.

Nun ist die Hl. Jungfrau nicht mehr das gänzlich unbeschriebene Blatt des Anfangs. Sie bleibt zwar ganz unschuldig und rein, aber sie umfasst jetzt jenen Vertrag, der ihr selber auf den Leib geschrieben ist, nochmals mit dem eigenen Leben: Sie wird in diesem Moment die Mutter der Schmerzen! Sie trägt die Schmerzen ihres Sohnes mit. Obwohl sie selbst unschuldig ist wie Er, trägt sie mit, was wir gesündigt und verschuldet haben, damit sie uns in unseren Nöten und Ängsten Mutter bleiben kann bis zum Ende dieser Welt. Sie und Ihr göttlicher Sohn sind zusammen die Garanten der Erfüllung des Vertrages, den Gott in Seiner Barmherzigkeit von neuem mit der Menschheit schließen will.

Wie die Menschheit hineingerufen wird in das Heil, wie wir jetzt in dieser apokalyptischen Zeit, die mit der Geburt Jesu begonnen hat und die am Kreuz sichtbar geworden, alle gerufen sind, dem göttlichen Vertrag treu zu bleiben, so wird die hl. Jungfrau diesem Vertrag, den ihr Sohn in unserem Namen mit dem Vater geschlossen hat, immer treu bleiben, damit er vollendet werde in der Herrlichkeit. So ist sie, und wir sehen es vor allen Dingen im zwölften Kapitel der Apokalypse des Johannes, nicht nur das unbeschriebene Blatt am Anfang des Vertrages, sie stimmt nicht nur der Ausfertigung des Vertrages durch das göttliche Wort mit freier, freudiger Zustimmung bei, sie wird nicht nur besiegelt mit der Geburt Gottes aus ihrem Leib, sie leidet nicht nur mit dem gekreuzigten Gottmenschen, wenn Er den Vertrag erfüllt, sondern an ihr wird die endgültige Erfüllung, deren Vollkommenheit wir uns nicht vorstellen können, die all unser Sehnen übersteigt, bereits sichtbar in apokalyptischer Schönheit und vorweggenommener Vollendung.

Tota pulchra es, Maria, du bist ganz schön, du bist jenes große Zeichen, von zwölf Sternen gekrönt, auf dem Monde stehend, ein Symbol für die innere Schönheit und anfanghafte Vollendung der Kirche, das uns nie verlässt! Wenn wir in allen Nöten der Zeit, in allen Nöten der Kirche, in allen eigenen Nöten auf Maria blicken, dann sehen wir in ihr die Vollendung bereits verwirklicht. Wir sehen, dass aus dem unbeschriebenen Blatt der unbefleckten Reinheit eine große, wunderbare Urkunde unseres Heils geworden ist, mit goldenen Siegeln geschmückt und vollzogen durch das siegreiche Opfer unseres Königs! Maria, die ewige Urkunde der Vollendung des Willens Gottes, gewährt uns durch die Gnade Christi, wenn wir dem treu bleiben, was sie selbst in ihrem Leben vorgelebt hat, dass diese Urkunde und ihr Vertrag auch an uns erfüllt wird. Auch wir werden mit Maria an der Glorie teilhaben, die sie uns mit ihrer Schönheit schon heute zeigt.

Gott ist kein kleinlicher Vertragserfüller! Alle Seine Werke zeigen vielmehr Seine Größe! Wie Er am Anfang mehr getan hat, als wir erwarten konnten, indem Er mit Maria ein ganz neues Blatt der Heilsgeschichte begonnen hat, wie Er in der Fülle der Zeiten uns Seinen eigenen Sohn geschenkt hat, der aus der Herrlichkeit herabgekommen ist, um unser Elend zu teilen, so wird Er uns am Ende nicht nur buchstäblich den Vertrag des Heils erfüllen, sondern Er wird uns mehr geben, unendlich viel mehr, als wir je erwarten können, weil Er selber so groß ist, dass das Universum Ihn und Seine Pracht nicht fassen kann.

Maria hat Ihn in ihrem Leib umfasst. Er hat ihr Seinen Glanz und Seine Größe mitgeteilt. An sie müssen wir uns halten, wenn es uns von unserer Seite schwerfällt, den Vertrag unseres Heils zu halten. Wenn wir unsere Hand von ihr führen lassen, dann wird unsere Unterschrift unter diesen Vertrag deutlich sein. Und wenn wir einmal beginnen, vor den Schwierigkeiten unseres Lebens zu verzagen und unsere Unterschrift undeutlich zu werden droht, dann wird sie unsere Hand halten wie eine gute Mutter und dafür sorgen, dass unser Name im Buch des Lebens klar verzeichnet bleibt. Haben wir Vertrauen zu ihr, dann kann uns nichts passieren!

Die Kirche, unser Institut und wir alle werden unter dem Schutzmantel Mariens die großartige Herrlichkeit Gottes erfahren dürfen, wenn wir immer auf sie schauen und ihr folgen, denn sie ist das fleckenlose Blatt, auf das Gott Seine Verheißung mit den goldenen Lettern der Ewigkeit geschrieben hat. Amen.