Predigt Msgr. Prof.DDr. Rudolf Michael Schmitz am Karfreitag, dem 15. April 2022

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen

Mitleiden! Uns anderen Menschen mit einem wirklichen Herzensmitleid zuwenden! Gelingt uns das noch? Wissen wir noch wirklich, was Mitleid ist? Jemanden mitleidig anblicken: Das hat in unserer Sprache schon einen hochmütigen Beigeschmack angenommen. Mitleid erheischen, von jemandem Mitleid erwarten, das ist gar eine fordernde Haltung.  Schon Friedrich Nietzsche hat fälschlich das Mitleid als eine Haltung der Schwachheit und der Niedrigkeit befunden. Sein Übermensch, der große, starke, erfolgreiche, kennt kein Mitleid mit den Armen, den Kranken und den Beladenen. Diese Haltung ist mehr und mehr eine Grundhaltung vieler in unserer Gesellschaft geworden, die oft statt Mitleid nur den Ruf nach staatlichen Maßnahmen oder gar nach Abtreibung und Euthanasie kennen.

Wir aber dürfen am heutigen Tag, dem hochheiligen Karfreitag, an dem der König des Universums für uns am Kreuz stirbt, von Ihm und von der treuen Gruppe unter dem Kreuz das wirkliche, das christliche Mitleid lernen. Blicken wir dazu auf die Figuren, die an dieser Kreuzesszene teilnehmen.

Zunächst ist da der gekreuzigte Herr. Er gibt als Grund Seines Todes das Mitleid und das Erbarmen an. Schon lange vorher hat Er gesagt: „Misereor super turbam.“ (Mk 8, 2). „Ich erbarme mich der Menge.“  Damit will er sagen: ‚Ich habe Mitleid mit euch Sündern. Für euch bin ich gekommen und für euch will ich sterben‘. Er zeigt uns Mitleid, indem Er uns noch vom Kreuz herab alle unsere Sünden vergibt. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23, 34).

Er zeigt uns Sein Mitleid, ganz ohne Hochmut und Herablassung. Denn hat Er uns, wie Er uns selbst offenbart hat, zuerst geliebt. Er bemitleidet uns nicht aus Hochmut, sondern aus wirklicher Erlöserliebe, die sich ganz uns schenkt, bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Er bemitleidet uns aus einer Freundschaft heraus, die Er selbst geschaffen hat, denn Er hat gesagt: „Ich habe euch Freunde genannt.“ (Jo 15, 15). Damit hat Er uns durch die Gnade zu Seinen Freunden gemacht, derer Er sich nun erbarmt und für deren Elend als Sünder Er Mitleid zeigt. Dieses Erbarmen, das ganz deutlich aus allen Worten des Herrn spricht, das Ihn dazu bringt, zum Schluss zu sagen: „Consummatum est“ (Jo 19,30), gleichsam ,das Werk meines Mitleidens ist vollbracht‘, kann uns lehren, dass wirkliches Mitleid nichts mit hochmütiger Herablassung zu tun hat. Echtes Mitleid kommt aus einem liebenden Herzen, aus dem Herzen des Freundes, der sich wohl aus göttlicher Höhe herablässt, aber sich tief erbarmt aller Leiden, aller Schmerzen, aller Schwierigkeiten und aller Beladenheiten derer, die Seinem Herzen nahestehen.

Diese Haltung wird ebenso deutlich bei der nächsten Person der Kreuzigungsszene, die auch uns immer wieder ihr Mitleid zeigt, nämlich bei der Mutter des Herrn, die Er vom Kreuz herab unsere Mutter genannt hat. Nicht nur leidet sie mit ihrem Sohn, sie vereinigt sich ganz mit diesem Mitleiden, mit der compassio, mit dem wirklichen Sühneleiden ihres Sohnes, sodass sie unter dem Kreuz in diesem Leiden zur Miterlöserin wird.

Der tiefste Grund dieser Miterlösung ist zunächst verborgen: Wir können eine Mutter verstehen, die, als sie ihren Sohn am Kreuz Seinen letzten Blutstropfen vergießen sieht, unendlich leidet, mit Ihm leidet und all Sein Leiden teilen will. Aber noch mehr tut sie, viel mehr, aus Mitleid mit uns, denn sie ist auch unsere Mutter. Sie gibt ihr einziges Kind freiwillig hin, und zwar bewusst als Opferlamm für unsere Sünden.  Sie leidet nicht nur mit dem liebsten Menschen, den sie hat, sondern sie stimmt in den Opferakt Christi ein und vereinigt sich mit Ihm in dieser Ganzhingabe, in der Er für die Sünder, die sich immer wieder von Ihm wegwenden, trotzdem aus liebendem Mitleid stirbt. Deswegen nennen wir sie zurecht mater misericordiae, die Mutter der Barmherzigkeit.

Das sind für uns große, fast unerreichbare Beispiele wirklich gottmenschlichen und ganz gnadengetragenen Mitleids. Aber wenn wir die übrige Gruppe unter dem Kreuz betrachten, dann wird das Mitleid auch für uns noch menschen-möglicher, noch zugänglicher. Denn wir sehen erstens Maria Magdalena, die aus Mitleid fast unter dem Kreuz stirbt. Ihr Herz wird zerrissen, weil ihr geliebter Heiland dort leidet. Sie weiß, Er leidet auch für ihre Sünden! Dieses Mitleid ist das Mitleid, das wir empfinden können, wenn ein ganz geliebter Mensch stirbt oder leiden muss. Nicht für unsere Sünden, aber doch ganz unserem Herzen nahe, ganz uns verbunden, sodass sein Leiden unser Herz im Mitleiden zerreißt. Dann nicht wegzugehen, dann den Sterbenden, den Schmerzbeladenen zu trösten, das gleicht Maria Magdalena, die trotz allen Schmerzes treu unter dem Kreuz bleibt und sich dem Mitleid nicht entzieht.

Sehen wir nun den hl. Johannes, den Lieblingsjünger des Herrn. Er leidet mit dem Herrn, den er vorher verlassen hat, weil er nun aus Freundschaft treu leiden will. Er war der Freund des Herzens unseres Herrn. Er kehrt zurück! Er lässt den Herrn in der Todesstunde schließlich nicht allein. Wir sind Freunde genannt worden. Wir sind zu Freunden gemacht worden. Wir können deswegen nicht nur den Herrn in Seinem Leiden nicht verlassen, sondern wir sind auch berufen, unseren eigenen Freunden, unseren Verwandten, Nachbarn und denen, die uns nahe stehen, in ihrem Leid, das nicht nur körperlich sein muss, beizustehen und sie nicht zu verlassen. In ihnen tritt uns das Leiden Christi gegenüber. Aus ihnen spricht der Herr zu uns, der in der Todesnot zu den Aposteln sagt: „Könnt ihr nicht wenigstens eine Stunde mit mir wachen?“ (Mt 26, 40).

Und schließlich ist da Maria Kleopha, die sich, wie so viele gute Frauen und so viele andere Menschen, des Leidenden erbarmt. Die, wie tausende, die Kranke pflegen, wie viele Mütter und Väter, wie so viele Menschen, die Gutes tun, unter dem Kreuz bleibt, weil der Herr ihr von Herzen leidtut, aus einem echten menschlichen und christlichen Erbarmen. In dieser Welt zählt oft nur noch Erfolg, Geld und Größe. Dabei sind die größten Schätze der Kirche, darauf hat der kranke Papst Johannes Paul II. hingewiesen, unsere Kranken, die größten Schätze sind die geistig und materiell Armen im Geiste und, alle jene, die wirklich unserer Hilfe bedürfen. Wir brauchen dafür nicht in die Ferne zu gehen. Sie sind um uns herum. Erbarmen wir uns ihrer, dann tun wir, wie Maria Kleopha unter dem Kreuz, dem sterbenden Herrn einen Dienst. Wir trösten Ihn, weil wir mit Ihm und ihnen leiden! So dehnen wir Sein großartiges Werk der Erlösung, das ein Werk der Barmherzigkeit ist, auf die vielen aus, die ohne uns alleine wären und die ohne uns in ihrem Schmerz ungetröstet blieben.

Wir können also von unserem Herrn Jesus Christus, der heute am Kreuz stirbt, von Seiner Mutter, der Miterlöserin für unsere Sünden, von der kleinen Freundesgruppe unter dem Kreuz das wahre christliche Mitleid lernen. Wir können lernen, wie man wirkliches Mitleid gibt: aus Liebe, aus Freundschaft, aus Herzenserbarmung.Wir können aber auch lernen, wie man Mitleid empfängt, wie man sich ohne falsche Scham helfen lässt, nach der Liebe des anderen dürstet und danach fragt, wie man dankbar ist für Hilfe, Schutz und Unterstützung, Wir sehen am Herrn selber, dass Er bis zum Schluss, bis zu dem dramatisch-einfachen Wort „Mich dürstet“ (Jo 19,28), auf unsere Liebe und auf unser Mitleid wartet und hofft.

Für den Herrn gibt es keine Zeit, sondern nur Ewigkeit. Er wartet heute noch, auch jetzt, in dieser Stunde, in jeder Minute unseres Lebens auf unser Mitleid. Die Antwort, die wir geben können, Ihm und den vielen anderen, die des Mitleids bedürfen, ist eine Antwort der Liebe, der Freundschaft und der Barmherzigkeit. Wenn wir heute das Kreuz andächtig verehren, dann geben wir diese Antwort, nicht nur äußerlich, sondern auch in unseren Herzen: Wir wollen das christliche Mitleid pflegen, es soll nicht sterben in dieser Zeit. Der Herr ist aus Mitleid mit uns gestorben. Nur durch dieses göttliche Mitleid leben wir und lebt das echte christliche Mitleid! Vereint mit dem Erbarmen des Herrn tragen wir dazu bei, dass die Menge, derer er sich erbarmt hat, wirklich gerettet werden kann!

Amen.