Predigt Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz, Sonntag Quinquagesima, 19. 2. 2023

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Eines der größten Kreuze für die Menschen ist es, wenn sie das Augenlicht verlieren, oder gar, wenn sie, ohne sehen zu können, auf diese Welt gekommen sind. Das Dunkel, das immer mehr oder ganz auf ihren Augen liegt, macht ihr Leben zu einem schwierigen Kreuzweg.

Schlimmer noch als die Blindheit der Augen aber ist die Blindheit des Herzens!  Deswegen haben schon die Kirchenväter den Wunsch des Blinden an den Herrn: „Ut videam“, „Mach mich sehend“ (Lk 18, 42), als den Wunsch und die Notwendigkeit der ganzen sündigen Menschheit interpretiert. Wir sind nicht alle blind, wenn es um das Augenlicht geht, aber viele von uns – und leider immer mehr – leiden an einer tiefen Herzensblindheit, an einer Verblendung des Herzens, die sie nicht mehr erkennen lässt, wie sehr Gott sie liebt. Diese Herzensblindheit, diese innere Verblendung kann viele verschiedene Gründe haben. Wenn wir heute in die Gesellschaft und in die Kirche blicken, sehen wir einige von ihnen, die offensichtlich sind.

Zunächst einmal sind viele verblendet und können dem Wort des Herrn und seinem Licht nicht mehr folgen, weil sie der Ideologie und der Lüge verfallen sind. Wir merken, dass selbst intelligente Menschen, und vielleicht gerade sie, nicht mehr erkennen können, was klar vor Augen liegt, was unbedingt getan werden müsste, was Gut und Böse ist, weil sie einer Ideologie folgen, die mit der Wahrheit nichts zu tun hat, weil sie vom Vater der Lüge stammt. Eine solche Verblendung – wir sehen es in der Geschichte und heute wieder – befällt nicht selten die Regierenden, vor allem, wenn sie sich von Gott angewandt haben. Doch leider, und so lehrt uns die allerjüngste Geschichte in unseren deutschen Landen, kommt eine solche Verblendung auch bei Würdenträgern der Kirche vor, die trotz der Wahrheit des Glaubens nicht mehr sehen können und wollen, wo der wahre Weg des Willens Gottes liegt. Sie können nicht mehr erkennen, was das Heil für alle ist, und meinen, durch eigene Wege und Sonderwege etwas zu erreichen, was vielleicht „zeitgemäß“ erscheint, aber ganz deutlich gegen den Willen Gottes gerichtet ist. Die Verblendung des Herzens treibt den Menschen durch Ideologie und Falschheit vom Wege Gottes und schließlich aus der Einheit der wahren Kirche.

Die Verblendung des Herzens aber findet ihren Ursprung oft genug ebenfalls in Hass und Neid. Dadurch kommt sie nicht selten in unser eigenes Leben, wenn wir dem Nächsten nicht gönnen, was er hat; wenn uns jemand so zuwider ist, dass wir ihn nicht mehr mit klaren Augen sehen können; wenn wir nicht mehr begreifen, dass auch der, der uns unsympathisch ist, ein Kind Gottes ist und dass es im Garten Gottes verschiedene Pflanzen gibt, die alle auf die eine oder andere Weise ein Recht haben zu wachsen. Wenn Abneigung, wenn gar Hass und Neid uns Herz und Auge verengen, dann können wir nicht mehr sehen, wer der andere wirklich ist. Wir können und wollen nicht mehr wahrhaben, dass auch er von der Gnade berührt wurde und wir wollen nicht einsehen, wie gut es wäre, mit ihm in Frieden zu leben. „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, ruft der Dichter; wie leicht, geben wir es zu, können wir selbst dieser böse Nachbar sein!

Leider gibt es in unserem eigenen Leben ebenso die Verblendung durch Egoismus und Hochmut. Wie oft drehen wir uns nur um uns selbst! Wir beklagen uns darüber, was uns fehlt, und sehen dabei gar nicht mehr die Not des anderen und das, was uns alles von Gott geschenkt worden ist. Wir sind hochmütig und meinen, über alle anderen richten zu können und in unserer Verblendung sehen wir nicht, wie klein, wie hilflos und wie erbarmungswürdig wir selbst sind. Unsere eigene, eingebildete autonome Selbstherrlichkeit hindert uns daran, die Größe Gottes und Seiner Gnadengeschenke zu sehen, Ihn dankbar mit ganzem Herzen zu verehren und Ihn so zu lieben, wie Er von uns geliebt werden will. Wir sind hartherzig Gott und den Menschen gegenüber und daher herzensblind und stolz verblendet.

Vielleicht am häufigsten und gleichzeitig am unsichtbarsten ist diese Verblendung, wenn sie durch die Gewohnheit eintritt. Hier ist nicht die gute Gewohnheit gemeint, die wir alle brauchen, die als ordnende Hand unser Leben dem Willen Gottes angleicht und die uns in ihrer höchsten Form als Tugend begegnet. Es ist vielmehr die Gewohnheit der Routine, die gleichsam mit einer kalten Hand die Augen des Herzens bedeckt. Wir können uns an das Gute so sehr gewöhnen, dass wir es nicht mehr sehen. Wenn in Ehe oder Freundschaft durch lange Gewohnheit plötzlich das Gute, das man einander tut, oder das Gute, das in dem Ehepartner oder den Freunden liegt, nicht mehr gesehen wird, weil es schon zur unbeachteten Gewohnheit geworden ist, dann ist unser inneres Auge blind geworden für die Güte der anderen Personen. Wenn wir die Augen unserer kleinen, routinemäßigen Gewohnheit mehr auf die Schwächen unserer Umgebung lenken als auf die Stärken, werden auch wir verblendet. Das kann in jedem Kreis von Menschen passieren, der geistlichen Gemeinschaft, der Familie, dem Freundeskreis, der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz: Wir sehen dann immer nur den Splitter in den Augen der anderen, nicht aber die Balken in unseren eigenen, weil die schlechte Gewohnheit uns blind gemacht hat für das Gute, das Gott in jeden legt und das uns täglich durch sie geschenkt wird. Der so Verblendete dankt weder Gott noch den Menschen, sondern nimmt alles Gute für selbstverständlich, während auch das kleinste Opfer ihn gleich zum Klagen bringt!

Schlimmer noch ist die Verblendung durch die Gewohnheitssünden, jene schäbigen Angewohnheiten, die unsere Seele beschmutzen, ohne dass wir es so recht bemerken.  Fast unbemerkt haben wir sie angenommen, weil sie so üblich sind und so häufig, ganz wie Mittelmäßigkeit und schlechter Durchschnitt. Das sind z.B. die ständigen Lügen in kleinen Dingen, um Dinge zu beschönigen oder uns zu entschuldigen; die üble Nachrede, die uns immer wieder auf die Zunge kommt, obwohl wir nicht besser sind als die anderen; das vorschnelle Urteil über Menschen, die wir gar nicht richtig kennen; der kleinliche Geiz;  erbärmlichen Grauzonen im sechsten Gebot und viele andere große und kleine Gewohnheitssünden, die sich wie Staub auf unsere Augen legen. Sie verblenden unser Herz und machen den Blick auf das Wahre, Gute und Schöne Gottes dunkel; wir sehen unsere eigene Wirklichkeit und die des Nächsten nicht mehr klar. So denken wir in eingebildeter Verblendung über uns selbst: „Wirklich, ich bin eigentlich ein guter Mensch!“, während alle anderen eher das Gegenteil bemerken. Durch die Verblendung durch die oft nicht bekämpften Gewohnheitssünden werden wir wie der Pharisäer auf die anderen herabblicken und nicht merken, dass wir selbst in Wirklichkeit der letzte Zöllner sind, der nur das Recht hätte, sich an die Brust zu klopfen und zu sagen: „Herr, ich bin nicht würdig!“ Gewohnheitssünden sind daher oft der Grund für innere Verblendung, der Grund für die Unmöglichkeit, sich zu bekehren und der Grund dafür, dass wir die Herrlichkeit der Gnade Gottes in unserem Leben und in dem Leben des anderen nicht mehr klar sehen.

Muss uns das mutlos machen? Gibt es gegen diese verschiedenen Arten der Verblendung denn überhaupt ein Heilmittel? Können wir eigentlich etwas dagegen machen, wenn wir, wie es scheint, blinder und blinder werden und von Blinden umgeben sind, die Blinde führen?

Der hl. Paulus weist klar auf das einzige Heilmittel gegen die Herzensblindheit(cf. 1 Kor 13, 1-13): Geradezu das Allheilmittel gegen alle Verblendung, das Heilmittel, das uns statt der Ideologie die Wahrheit lehrt, das Heilmittel, das uns statt Hass und Neid Zuneigung und Großzügigkeit eingibt, das Heilmittel, das uns von der Blindheit der Routine und allen schäbigen Gewohnheitssünden befreit und uns aus der Dunkelheit in das Licht Gottes treten lässt, ist die große Liebe Gottes! Sie ist kein zu oft zitierter Gemeinplatz, kein sentimentales Gefühl, sondern ein göttliches Geschenk, das wir uns nicht selber schaffen müssen! Das Allheilmittel der Liebe ist uns vielmehr bereits in der Taufe eingegossen worden!

Jeder Getaufte hat das Geschenk der Liebe Gottes erhalten, in der hl. Firmung ist es gestärkt worden und bei jeder hl. Beichte wird es uns wiedergegeben und erneuert. Es ist nicht etwas, das wir selbst hervorbringen können, sondern es ist in unseren Herzen, solange wir im Stande der Gnade sind. Wir sollen es nur leben, wir sollen diesem Geschenk keine Hindernisse setzen, wir müssen es nur aus unserem Herzen hervorkommen lassen durch die täglich in Gebet und guten Werken erneuerte Gottes- und Nächstenliebe: Statt Lüge Wahrheit, statt Hochmut Demut, statt Hass Vergebung, statt Neid Großzügigkeit, statt schlechter Gewohnheit Dankbarkeit und Bekehrung!

Für ein solches christliches Leben fehlt uns Gottes Gnade nie. Mit ihr können wir alle Verblendung der Welt und unseres eigenen Herzens überwinden. Nicht nur das, wir können auch klar wissen, ob wir so leben, denn der Maßstab, den der hl. Paulus uns gibt, ist eindeutig. Hören wir noch einmal den Beginn des 13. Kapitels aus seinem ersten Brief an die Korinther, denn darin wird für jeden von uns erkennbar, wann wir aus Liebe und wann wir aus Verblendung handeln: „Die Liebe nämlich ist geduldig, die Liebe ist gütig, die Liebe neidet nicht, sie handelt nicht prahlerisch, sie bläst sich nicht auf, sie ist nicht ehrgeizig, nicht selbstsüchtig, sie lässt sich nicht erbittern, sie denkt nichts Arges, sie freut sich nicht über das Unrecht, sie hat Freude an der Wahrheit, sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Lesen wir diese Worte oft nach! Vergleichen wir unser eigenes Tun mit dem göttlichen Maßstab, der uns in diesen Worten offenbart wird: Jedes Mal, wenn uns die Verblendung des Herzens zu einer der Liebe entgegengesetzten Haltung verführt hat, haben wir hier den eindeutigen Maßstab, zu dem es sofort zurückzukehren gilt! Bleiben wir nicht verblendet, sondern fangen wir neu an und lassen das Licht Gottes und Seiner Gnade in unsere Augen und unser Herz scheinen! Die Liebe ist ein Geschenk Gottes, das wir alle bereits erhalten haben. Je mehr die Liebe regiert, desto mehr wird die Verblendung des Herzens verschwinden!

Diejenigen, die so verblendet sind, dass sie das nicht mehr begreifen können, können trotzdem von der Liebe bekehrt werden: von der betenden Liebe, von der opfernden Liebe, von der duldenden Liebe, von der stellvertretenden Liebe Christi und der Christen!  Wie sehr wird nicht der Sünder davon berührt, wenn wir ihm ein gutes Wort sagen, wenn wir seine wenigen guten Taten anerkennen, wenn wir uns nicht von ihm abwenden, wenn wir für ihn beten und leiden! Wenn wir das tun, wenn wir also das Geschenk der Liebe auch denen bringen, die verhärtet sind, dann können sie sich bekehren, dann können sie plötzlich sehen, was Christus dem Blinden getan hat, und sie werden sagen wie er: „Domine, ut videam; Herr, mach mich sehend!“

Beten wir gegen alle innere Verblendung auch selbst jeden Tag dieses Gebet des Blinden: „Ut  videam, mach mich sehend!“ Doch fügen wir ein anderes, größeres Gebet aus der Tiefe unseres Herzens hinzu, um durch die Gnade die Blindheit unserer Seele gänzlich zu überwinden: „Domine, ut amem, Herr, mach mich liebend!“ Nur wenn wir lieben, werden wir auch sehen. Amen.