Liebe Gläubige,
„Gehorchen oder nicht gehorchen, das ist die Frage!“, so könnte man den bekannten Ausspruch Hamlets umformulieren, wenn man an die Situation denkt, in der wir in den letzten Wochen gestanden haben und teilweise noch stehen. Müssen die Christen in jedem Fall der Obrigkeit gehorchen und sich ihren Geboten und Verboten unterordnen? Welche Bereiche darf die weltliche und kirchliche Autorität reglementieren? Müssen wir jede Beschränkung unserer Freiheit einfach hinnehmen? Dürfen wir uns allen Zwangsmaßnahmen einfach beugen? Die überlieferte Lehre der Kirche gibt uns eine klare Antwort auf diese Fragen.
Der Apostel Petrus antwortet dazu in seinem ersten Brief, den wir heute in der Epistel gehört haben, zunächst eindeutig: „Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als denen, die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun.“ (1 Petrus 2,13-14) Er geht sogar noch weiter und sagt zu den Sklaven seiner Zeit: „Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den bösartigen.“ (1 Petrus 2, 18) Im Römerbrief des heiligen Paulus finden wir dieselbe Lehre: „Jeder Mensch soll sich den übergeordneten Gewalten unterordnen. Denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott; die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt.“ (Römer 13, 1) Der heilige Paulus zieht zu Recht aus diesem Grundsatz weitreichende Schlussfolgerungen, die in der Folge die Beziehung der Christen zur Obrigkeit immer bestimmt haben: „Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der Obrigkeit leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest! Denn sie steht im Dienst Gottes für dich zum Guten. ” (Römer 13, 2-4)
Damit ist zunächst klar, dass die Obrigkeit, deren Autorität im letzten von Gott kommt, noch vor allen Zwangsmaßnahmen, über die sie verfügt, von uns als Christen Gehorsam erwarten kann. In seinem Rundschreiben Divini Redemptoris vom 19. März 1937 (Nr. 29 und 30) gegen den Kommunismus hat Papst Pius XI. diesen Grundsatz nochmals erklärt: „Gott hat aber den Menschen auch auf die bürgerliche Gesellschaft hingeordnet als auf eine Forderung seiner Natur…, darum kann der einzelne sich niemals den gottgewollten Verpflichtungen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber entziehen, und die Träger der Autorität haben das Recht, ihn im widerrechtlichen Weigerungsfall zur Erfüllung seiner Pflicht zu zwingen.“ Weil der Mensch durch die göttliche Ordnung auf die Gesellschaft hingeordnet ist, muss er sich also der Autorität bereitwillig unterwerfen. Gott hat nämlich diese Autorität in der Gesellschaft eingesetzt, um die Dinge zum besten des Menschen zu ordnen. Wenn der Mensch, sei er Christ oder nicht, sich dieser Ordnung verweigert, entzieht er sich dem Willen Gottes und schadet sich selbst und anderen.
Doch hier liegt auch die Grenze, innerhalb derer die der Gesellschaft vorstehende Autorität Gehorsam verlangen kann. Dieser Gehorsam hat nämlich seinen Ursprung im Wohl des Einzelnen und soll die Ausübung seiner ebenso gottgewollten und heilsnotwendigen Freiheit in das Gesamt der Gesellschaft einordnen und befördern. Pius XI. sagt mit der gesamten kirchlichen Tradition eindeutig: „die menschliche Gesellschaft ist für den Menschen da und nicht umgekehrt“, denn „nur der Mensch, die menschliche Persönlichkeit, nicht irgendeine menschliche Gesellschaft ist Träger von Verstand und freiem sittlichen Willen.“ (Divini Redemptoris, 29) Das heißt, dass die Gesellschaft und die in ihr herrschende Autorität alles tun muss, damit die Freiheit des Menschen seinem gottgewollten Ziel entspricht. Zwar darf niemand seine Freiheit im egoistischen Sinn zum Schaden anderer oder des Gemeinwohls missbrauchen, doch noch weniger darf diese Freiheit im Namen irgendeines anonymen gesellschaftlichen Kollektivs in ihren Grundrechten beschränkt werden. Wenn die Autorität gottgegebene Freiheitsrechte zeitweise einschränkt, so kann der Grund nur eine eindeutige Notlage oder ein Verstoß des Individuums gegen die gottgewollte Rechtsordnung sein. Sonst sind diese der gleichen Rechtsordnung entstammenden Grundrechte, wie das Recht auf Leben, Privatbesitz und freie Religionsausübung, immer unantastbar.
Daher findet der christliche Gehorsam der Obrigkeit gegenüber auch klare Grenzen, vor allem, wenn Machthaber verlangen, ganz konkret und persönlich gegen Gottes Gebot und Auftrag zu handeln. Für einen solchem Fall sprachen Petrus und die Apostel zum Hohen Rat: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apostelgeschichte. 5, 29) Missbrauch der Macht, der vom Einzelnen ein mutiges Bekenntnis zu den Gesetzen Gottes und im äußersten Fall zivilen Ungehorsam erfordert, liegt dann vor, wenn die Ausübung wesentlicher Grundrechte aus willkürlichen Gründen unterbunden wird. Die Gesellschaft kann nämlich niemals „den Einzelmenschen der ihm vom Schöpfer selbst verliehenen Persönlichkeitsrechte…berauben, noch ihm deren Gebrauch grundsätzlich unmöglich machen.“ (Pius XI., Divini Redemptoris, 30).
Diese Gefahr liegt aber vor allem vor, wenn die Rechtsordnung in einer Gesellschaft von ihrer Grundlage im Naturrecht getrennt wird. Dann wird Recht zur reinen Zwangsordnung, in der die willkürlich ausgeübte Gewalt die innere Begründung des Rechtes aus der menschlichen Natur und ihren Notwendigkeiten ersetzt. Alles kann dann durch Gewalt zum Gesetz werden und der in der menschlichen Natur eingeschlossene, deutlich erkennbare Wille Gottes wird missachtet. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag von neuem auf die unverzichtbare Bedeutung des Naturrechts hingewiesen. Aber schon Papst Pius XI. sagt in seiner berühmten Enzyklika Mit brennender Sorge gegen den Nationalsozialismus, am 14. März 1937, also drei Tage vor seinem schon zitierten Rundschreiben gegen den Kommunismus: „An den Geboten dieses Naturrechts kann jedes positive Recht, von welchem Gesetzgeber es auch kommen mag, auf seinen sittlichen Gehalt, damit auf seine sittliche Befehlsmacht und Gewissensverpflichtung nachgeprüft werden.“ Nützlichkeitserwägungen des Staates haben daher an den im Naturrecht verankerten Freiheitsrechten des Menschen ihre klare Grenze. Der Grundsatz „Recht ist, was dem Volke nützt“, ist nur anwendbar, „wenn man unterstellt, dass sittlich Unerlaubtes nie dem wahren Wohle des Volkes zu dienen vermag“. (Pius XI., Mit brennender Sorge, 35) Schon Cicero sagt: „Nie ist etwas nützlich, wenn es nicht gleichzeitig sittlich gut ist. Und nicht weil nützlich, ist es sittlich gut, sondern weil sittlich gut, ist es auch nützlich.“ (De officiis, 3, 30) Die willkürliche und dauerhafte Einschränkung von Freiheitsrechten aber ist weder gut noch nützlich.
Als gläubige Katholiken haben wir in den letzten Wochen unter Einschränkungen unserer Freiheitsrechte gelitten, die das Grundrecht der freien Religionsausübung betreffen. Niemand zweifelt daran, dass manche dieser Einschränkungen im Sinne des Schutzes des Allgemeinwohls und des Wohls des Einzelnen notwendig waren. Jeder ist gehalten, sich und andere vor Ansteckungen mit gefährlichen Krankheiten zu schützen und dafür auch gegebenenfalls Opfer zu bringen, die die eigene Freiheit teil- und zeitweise begrenzen. Wie viele dieser Einschränkungen jedoch im Sinne der Ordnung Gottes wirklich gut und damit nützlich waren, ist sehr umstritten und wird sich vor der Kritik der Geschichte erst klarer herausstellen müssen.
Selbst das deutsche Bundesverfassungsgericht, dessen jüngstes Euthanasieurteil keinen großen Respekt vor dem Naturrecht zeigt, fühlte sich bemüßigt, in einer Entscheidung vom Karfreitag 2020, die Sicht, das Gottesdienstverbot für verfassungswidrig zu halten für nicht unbegründet, „vielmehr als offen“ zu erklären. In einer anderen Entscheidung vom 10. April mahnte das Bundesverfassungsgericht bei einer Fortschreibung des Gottesdienstverbots eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit an. Es sei zu prüfen, ob das Gottesdienstverbot „unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional“ gelockert werden könne. Diese Lockerung wird jetzt langsam Wirklichkeit. Dabei ist die Rolle der kirchlichen Obrigkeit nicht immer einheitlich und eindeutig. Ob der vorauseilende Gehorsam und das Schweigen gegenüber einem, wie das Bundesverfassungsreicht formulierte, „überaus schwerwiegenden Eingriff“ in die Religionsfreiheit, der Glaubwürdigkeit der kirchlichen Autorität in der Verteidigung der göttlichen Ordnung genützt hat, kann sehr bezweifelt werden. Wenn die staatlichen Lockerungen noch nicht überall zur baldigen Wiedereinführung der öffentlichen Zelebration der heiligen Messe geführt haben, bleibt das vollends unverständlich. Die Enzyklika Mit brennender Sorge (Nr. 16) sagte von den Bischöfen stattdessen: „Ihre heilige Amtspflicht ist es, soviel an ihnen liegt, alles zu tun, damit die Gebote Gottes als verpflichtende Grundlage des sittlich geordneten privaten und öffentlichen Lebens beachtet und befolgt werden; dass …das Sühnegebet der Gläubigen nie erlahme, das wie Rauchwerk Stunde um Stunde zum Allerhöchsten emporsteigt und Seine strafende Hand aufhält.“
Diese Geschehnisse lehren uns, wachsam zu sein. Was Papst Pius XI. angesichts der Bedrohung des Glaubens während des Nationalsozialismus sagte, wiederholt sich vor unseren Augen: „Alle Versuche, die Sittenlehre und sittliche Ordnung vom Felsenboden des Glaubens abzuheben und auf dem wehenden Flugsand menschlicher Normen aufzubauen, führen früher oder später Einzelne und Gemeinschaften in moralischen Niedergang.“ (Mit brennender Sorge, 34) Dieser moralische Niedergang führt in unserer Gesellschaft bereits dazu, dass diejenigen, die sich ihm entgegenstellen, leicht in ihren Grundrechten geschmälert werden können. Die christlichen Kräfte in unserem Staatswesen werden schwächer, die kirchliche Autorität ängstlicher. Wie leicht in einer solchen Situation auch zunächst berechtigte staatliche Maßnahmen zum Vorwand weiterer und dauerhafterer Einschränkung des Glaubenslebens werden könnten, ist offensichtlich. Abtreibung und Euthanasie werden ebenfalls schon mit dem Verweis auf angebliche Rechtsgüter des Einzelnen oder der Gesellschaft toleriert. Wie schnell das Verbot der freien Religionsausübung gesellschaftsfähig werden kann, sehen wir in unserem Land nicht zum ersten Mal.
Bleiben wir also wachsam! Es gibt Kräfte in Staat und Kirche, die vor dem in unserer Natur eingeschriebenen Gesetz Gottes wenig Respekt haben. Es gab und gibt Kräfte, die jeden Vorwand nützlich finden, die Freiheit des Glaubens und seiner Ausübung zu verkleinern. Unter dem Mantel des vorgeblichen Gemeinwohls wird man auch weiter versuchen, eine größere Kontrolle über den Einzelnen durchzusetzen und seine Rechte einzuschränken. Das Recht auf Leben ist in unserer Gesellschaft schon bedroht und unterhöhlt. Man wird versuchen, auch unser Recht auf freie Ausübung unseres Glaubens zu vermindern. Wenn die Freiheit des Glaubens bedroht ist, steht die Freiheit des Menschen im Ganzen auf dem Spiel! Wir müssen uns gut überlegen, was wir tun können, um solche Übergriffe zu verhindern und unsere christliche Freiheit zu bewahren!
„Gehorchen oder nicht gehorchen, das ist die Frage!“ Wir wissen nun, dass der von uns der legitimen Obrigkeit als Christen zu leistende Gehorsam seine Grenzen hat. Wir dürfen nicht einfach alles akzeptieren. Wir müssen den Maßstab der göttlichen Ordnung an die Entscheidungen anlegen, die über uns getroffen werden. Wenn klar ist, dass die Obrigkeit die gottgewollte Ordnung nicht respektiert, müssen und dürfen wir entsprechend handeln. Die Märtyrer aller Zeiten, viele Bekenner gegen Gewaltherrschaft, große heilige Päpste wie Gregor VII. und Johannes Paul II. sind Beispiele dafür, dass das Gesetz Gottes über jeder Willkürherrschaft steht und letztlich über sie siegt.
Wir müssen daher wachsam sein, aber nicht ängstlich. Alle Zeit und jedes Ereignis liegt in Gottes Händen. Sollte unsere Glaubenstreue weiter geprüft werden, wird Gott uns auch die Gnade der Standhaftigkeit schicken. Sollten wir um die Freiheit des Glaubens kämpfen müssen, wird er uns Heilige senden, die diesen Kampf leiten. Wir sind nicht ängstlich! Wir teilen vielmehr auch heute die Glaubensüberzeugung der Enzyklika Mit brennender Sorge, die mutig schließt: „So wie andere Zeiten der Kirche wird auch diese der Vorbote neuen Aufstiegs und innerer Läuterung sein, wenn der Bekennerwille und die Leidensbereitschaft der Getreuen Christi groß genug sind, um der physischen Gewalt der Kirchenbedränger die Unbedingtheit eines innigen Glaubens, die Unverwüstlichkeit einer ewigkeitssicheren Hoffnung, die bezwingende Allgewalt einer tatstarken Liebe entgegenzustellen.“ Amen.
Msgr. Prof. DDr. Rudolf Michael Schmitz