Liebe Gläubige!
Viele von uns fühlen sich in diesen Tagen verlassen und allein. Unsere Kontakte zu anderen Menschen sind begrenzt. Unser Zugang zu den normalen Verläufen des Lebens ist oft erschwert. Selbst der Trost der Sakramente und die Teilnahme an der heiligen Messe ist für viele unmöglich gemacht. So fühlen wir uns ziemlich verlassen, manchmal sogar von den Vertretern der Kirche. Unsere Gesellschaft und der Einzelne in ihr scheinen nun auch sichtbar in einen Zustand einzutreten, den man als „gottverlassen“ beschreiben könnte.
Aber sind wir wirklich „gottverlassen“? Gerade als Er in seine Passion eintritt, ruft der Herr allen an ihm Zweifelnden zu: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, ehe Abraham ward, bin ich!“ (Johannes 8,58) Angesichts der Glaubenslosigkeit und Zweifel seines Volkes unterstreicht Christus klar und eindeutig die Tatsache seiner Gottheit. „Ehe Abraham war, bin Ich!“ Aus der Ewigkeit tönen diese Worte in die Zeit hinein. Sie sind nicht nur für die Zeit des irdischen Lebens Jesu gesprochen. Sie ertönen heute wieder mitten in unserer Welt: „Ehe Abraham war, bin ich!“
Gott ist immer in unserer Welt gegenwärtig: „In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir!“, sagt der heilige Paulus schon den Griechen auf dem Areopag in Athen (Apostelgeschichte 17, 28). Gott ist überall! Er ist der Urgrund dieser Welt, schenkt ihr das Sein und erhält sie. Ohne Ihn ist nichts! Ohne ihn bleibt nichts! Er ist nicht mit der Welt eins, sondern Er ist ihr Herr. Alle Wesen, auch wir Menschen, haben unser Sein von ihm. Er kennt uns durch und durch. Er weiß um einen jeden von uns. Jedes Haar auf unserem Haupt ist gezählt (vgl. Lukas 17 ,7). Anfang und Ende jedes Geschöpfes liegen in Seiner Hand. Er verlässt uns nie!
Was Christus uns im heutigen Evangelium sagt, ist noch viel mehr. „Ehe Abraham war, bin Ich“! Diese Offenbarung Seines göttlichen Wesens ist ein Echo der Stimme aus dem brennenden Dornbusch: „Ich bin der Ich bin!“ (Exodus 3, 14). Der uralte Name Gottes, im griechischen Text ἐγώ εἰμί [ego eimi, Ich bin], erschließt die Mitte der göttlichen Natur in Christus: Er ist die Fülle allen Seins, der allmächtige Gott: Gott gleich dem Vater und dem Heiligen Geist, und er ist da, mit seiner Macht und Größe, überall und mitten unter uns. Das Wunder seiner Gegenwart wird uns offenbart: In der Menschheit Christi ist Gott sogar mitten in unsere Geschichte getreten, damit wir nie mehr alleine sind!
Das hat zunächst niemand verstanden außer Maria, der Jungfrau. In ihr und durch ihr Ja zum Wirken Gottes war dieses wunderbare Heilsgeschehen möglich geworden. Deswegen verehren wir sie vor allen Engeln und Heiligen als die unbefleckte Mutter Gottes. Die anderen haben nichts oder wenig verstanden. Das Volk hob Steine auf, „um sie nach ihm zu werfen.“ (Johannes 8, 59). Jesus hatte ihnen auf den Kopf zugesagt, warum sie nichts verstehen konnten und wollten: „Wer aus Gott ist, der hört Gottes Wort; darum hört ihr nicht darauf, weil ihr nicht aus Gott seid.“ (Johannes 8, 47). Deswegen verbarg er sich vor ihnen und ging hinweg aus dem Tempel (vgl. Johannes 8, 59).
Wer nicht verstehen will, der ist aus eigener Schuld verlassen, denn vor ihm verbirgt sich Gott. Das passiert uns, wenn wir uns von Gott abwenden. Wir wollen nicht hören und Gott verbirgt sich vor uns. Er lässt uns nicht allein, aber der Sünder kann ihn weder hören noch sehen. Das kann dem Einzelnen geschehen, aber auch der ganzen Gesellschaft. Diese Gottferne ist sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft eine Folge der Verweltlichung. Wenn der Mensch sich zum Maß aller Dinge macht und das Gesetz Gottes vergisst, dann wird er blind und taub. Er hebt Steine auf, um sie nach Gott zu werfen. Gott lässt ihn selbst dann nicht allein, aber er verbirgt sich. Um uns an diese traurige Folge unserer Sündhaftigkeit zu erinnern, verhüllt die Kirche am heutigen Passionssonntag auch heute noch die Kreuze und Statuen.
Manchmal ist diese Gottabgewandtheit mitten in die Kirche eingedrungen. Jesus hat schon den Aposteln klagend vorgeworfen: „Versteht ihr denn immer noch nicht?“ (Markus 8, 21). Sie haben ihn alle verlassen, als es darauf angekommen wäre, ihm besonders treu zu sein. Sie haben an seiner Gottheit gezweifelt und nicht nur Judas, sondern auch Petrus hat ihn ausdrücklich verraten. Immer, wenn die Kirche die Mahnung des heiligen Paulus missachtet hat: „Nolite conformari huic saeculo – gleicht Euch nicht der Welt an!“ (Römer 12, 2), sind die Apostel blind und taub geworden.
Dann hat Gott sich verborgen, aber er hat Seine Kirche niemals allein gelassen. Er hat Petrus und den Aposteln ihre Hirtenaufgabe nicht entzogen. Er ist mit ihnen und uns, trotz unserer Sündhaftigkeit, in der Kirche geblieben. Die Epistel des Passionssonntags macht das völlig klar. Der Hebräerbrief tröstet uns mit dieser Wahrheit: „Christus erschien als Hohepriester der künftigen Güter. Er ging […] mit seinem eigenen Blut ein für allemal in das Allerheiligste, nachdem er die ewige Erlösung bewirkt hatte.“ (Hebräer 9, 11-12) Der neue Bund, dessen Mittler Christus ist, besteht weiter, auch wenn wir uns von Gott abwenden. Seine göttliche Gegenwart unter uns mag vielen, die Steine werfen, verborgen sein, aber sie hört niemals auf.
Die Kirche geht heute sehr sichtbar mit Christus in die Passionszeit hinein. Er ist verborgen, aber Er verlässt uns nicht. Im Sakrament der heiligen Eucharistie ist der göttliche Mittler gegenwärtig. Auch in diesen Zeiten können wir ihn dort anbeten, wenn nicht durch einen Besuch, dann doch wenigstens in unseren Herzen. Wir sind gerufen, die Gegenwart des Gottmenschen stellvertretend für die, die nicht sehen und hören wollen, in dieser Welt zu verkünden. Wir sind gerufen, wie die Gottesmutter, die Apostel durch Gebet und Beispiel zu ermutigen. Unser Glaube zählt! Jeder Akt der geistigen Anbetung Gottes in der Kirche oder zuhause ist ein wichtiges Bekenntnis, damit Gottverborgenheit nicht Gottverlassenheit wird. Das nahende Osterfest, an dem Gott aus der Verborgenheit heraustritt, schafft niemand ab. Aus der festen Glaubensgewissheit an seine bleibende österliche Gegenwart bekennen wir mit der heiligen Kirche vor dem Gottmenschen Christus, dem Hohepriester des Neuen und Ewigen Bundes: „Bevor Abraham war, bist DU!“
Msgr. Prof. DDr. Rudolf Michael Schmitz