Predigt am 6. nachgeholten Sonntag nach Epiphanie, dem 19. November 2023 von Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz

Im Namen des Vates und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Heute wissen wir alle, was man ein Narrativ nennt. Ein Narrativ ist eine Begründungserzählung, mit der man, ob wahr oder falsch, eine gewisse Handlungsrichtung oder eine gewisse Meinung unterstützen will. Ein Narrativ kann einfach ein neues Wort für Lüge sein. Das Wort „Narrativ“ wird oft auch benutzt, um eine objektive Wahrheit zu untergraben und in die Nähe einer diskutierbaren Meinung zu bringen. Eines dieser falschen Narrative ist, dass die Kirche und der Glaube für die moderne Gesellschaft nicht mehr relevant seien.

Dieses Narrativ kannte schon unser Herr Jesus Christus. Es war das Narrativ, mit dem sich ganz konkret die frühe Kirche auseinandersetzen musste, weil sie pusillus grex, eine kleine Herde war und in der großen jüdischen und römischen Gesellschaft wenig Bedeutung zu haben schien. Deswegen hat der Herr die kleine Herde von Anfang an ermutigt, um gegen dieses falsche Narrativ deutlich die Wahrheit Gottes in ihren Herzen und ihren Geistern zu verankern: Der Glaube und die Kirche sind nicht irrelevant, sondern von großer Wichtigkeit, denn sie sind beide, wie das Reich Gottes, das sie wachsen lassen, ein Senfkörnchen und ein Sauerteig (Mt 13, 31-35). Wenn nun die Christen, die die Gnade des Glaubens erhalten haben und die dadurch in der Taufe die Kirche Jesu Christi bilden, mit Jesus Christus mutig diese Tatsache, die ihr ganzes Leben verändert hat, den Menschen verkünden, dann ist auch das, was die kleine Herde zu sagen hat, von großer Bedeutung und Relevanz für die Gesellschaft.

Zunächst einmal, weil Gott handelt! Denn die wunderbare Tatsache, dass das Gottesreich wie ein Senfkörnchen ist, das in der damaligen Gesellschaft zu einem großen Baum wachsen sollte, und wie ein Sauerteig, der schließlich alles durchdringt, ist das Werk Gottes Selbst. Nicht wir allein können ein solches Wunder wirken; so wie Gott die Wachstumskraft und die Säuerungskraft in die Bestandteile des Körnchens und des Teiges gelegt hat, so hat Er auch in die Kirche, in das bereits hier begonnene Reich Gottes, jene Kraft des Glaubens und der Gnade gelegt, die alles durchdringt und die die Kirche zu einem großen Baum macht, der Platz hat für alle. Gott wirkt immer zuerst! Er bekehrt uns zum wahren Glauben, Er bringt uns in die Kirche, Er schenkt uns die Gnade der Taufe, um am Leib seines Sohnes Anteil zu haben.

Doch Gott will, dass wir an diesem Wachstum mitwirken: Aus den Worten des heiligen Paulus an die Thessalonicher können wir lernen, dass die ersten Christen genau getan, haben, was wir tun müssen, nämlich mit der Kraft Gottes im wachsenden Reich Gottes, also der Kirche, mitzuarbeiten, und zwar zunächst durch den wahren Glauben, der in Gebeten und guten Werken sichtbar wird. Auch in der frühen Kirche gab es Glaubensstreitigkeiten. Viele haben etwa die Auferstehung von den Toten geleugnet, andere haben die Gottheit Jesu Christi abgestritten; wieder andere haben die Lehre von der Ewigkeit des Himmels und der Hölle in Zweifel gesetzt: Solche Streitigkeiten gab es auch in der frühen Kirche. Deswegen sagt der heilige Paulus, dass unser Glaube ein tätiger Glaube sein muss, ein Glaube, der sich wirklich auf die Fülle der Verkündigung Jesu Christi stützt und der, weil er nichts von der Wahrheit des Glaubens schmälert, weil er keine Kompromisse eingeht, vielfach tätig sein kann: tätig im Gebet, in guten Werken, in der Glaubensverkündigung, im Aufbau des Reiches Gottes, das die Kirche ist.

Aber nicht nur der tätige Glaube, auch die opferbereite Liebe gehört zur Ausbreitung des Reiches Gottes. Wer glaubt an Christus glaubt, – gerade in einer Gesellschaft, die nicht mehr glaubt oder die noch nicht glaubt – , wird für seinen Glauben und für die Liebe, mit der er diesen Glauben verkünden will, Opfer bringen müssen. Wir können nicht einfach alles mitmachen. Wir können nicht einfach sein wie alle anderen, wir können nicht mit dem Strom mitschwimmen. Das haben auch die ersten Christen nicht getan. Sie haben oft genug große Leiden ertragen müssen, bis hin zum blutigen Martyrium. Sie sind verfolgt und ausgegrenzt worden. Trotzdem haben sie die opferbereite Liebe, die sie von Jesus Christus gelernt haben, aufrechterhalten und haben diese Liebe zuerst einander gezeigt und dann den Heiden, um sie zu bekehren. Deswegen berichtet Tertullian in seinem Apologeticum (39) , dass man von den Christen der frühen Kirche sagte: „Seht, wie sie einander lieben…und wie einer für den anderen zu sterben bereit ist:“

Natürlich aber ist der Aufbau des Reiches Gottes, also die Durchsäuerung der Gesellschaft mit der Botschaft und Gnade Christi eine langwierige Angelegenheit, die hier auf Erden nie ganz abgeschlossen ist und viele Rückschläge erfährt. Deswegen spricht der Herr von der Notwendigkeit einer ausdauernden Hoffnung: In patientia vestra possidebitis animas vestras , wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr eure Seelen retten. Der Christ, der in einer Gesellschaft lebt, die zu bekehren ist, muss das mit großer, liebevoller Geduld in großer Standhaftigkeit tun. Er darf nicht glauben, dass alles von heute auf morgen geschieht. Er darf nicht glauben, dass alles ohne Schwierigkeiten und ohne Kämpfe vor sich gehen kann. Er weiß, dass, wenn er sich nur das Beispiel Jesu Christi ansieht und das Beispiel der Apostel – die fast alle als Märtyrer gestorben sind -, dass die Durchsäuerung der Gesellschaft und das Wachstum

des Samenkorns in einen großen Baum Zeit braucht, Leiden kostet und Ausdauer voraussetzt. Werden wir also nicht mutlos! Wir wissen: Gott ist immer mit uns, aber der Sieg kommt erst am Ende! Die Kraft der Durchsäuerung der Gesellschaft hat das Reich Gottes damals wie heute. Das Senfkörnchen ist in die Erde der Seelen geworfen und oft bricht oft unvermutet auf um zu einem hohen Baum zu werden; eine Bekehrung entsteht, die andere nach sich zieht und die zeigt, dass die Kraft Gottes immer noch in Seiner Kirche gegenwärtig ist.

Glauben wir also nicht dem sogenannten Narrativ, das uns weismachen will, dass die Kirche und der Glaube in der heutigen Gesellschaft nicht mehr relevant seien. Es ist nicht einmal ein Narrativ, sondern einfach eine Lüge. Was immer noch relevant ist, ist die Kraft Gottes; was wir aufgrund der Botschaft Christi und des Wirkens der Gnade glauben, lieben, und hoffen dürfen, bringt die Kraft Gottes auch heute in der Kirche zum Tragen, und wie damals, so wird ihr Sauerteig die ganze Gesellschaft durch unsere Mitarbeit durchdringen. Unsere Werke aus dem Glauben, unsere Opferbereitschaft und unsere standhafte Hoffnung werden den Baum der Kirche wieder wachsen lassen, und viele, viele, ja alle Menschen guten Willens, werden in ihm Wohnung finden. Amen.