Predigt Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz am 27. Februar 2022 (Sonntag Quinquagesima)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Angesichts eines Krieges, der sich auszubreiten droht, von der Liebe zu sprechen, ist vielleicht naiv. Haben wir nicht schon zu viel von der Liebe gehört? Hat die Rede von der Nächstenliebe nicht schon über Gebühr den Platz aller anderen Glaubensinhalte eingenommen? Warum sollen wir von Neuem und schon wieder von der Liebe sprechen?

Der heilige Paulus sagt uns eindeutig, dass wir nie genug von der Liebe reden: Die Liebe ist das Entscheidende in unserem christlichen Leben: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei, doch die größte unter ihnen ist die Liebe.“ (1 Kor 13, 13).

Die Liebe aber scheint auch jene Tugend zu sein, über die die meisten Missverständnisse herrschen. Manche identifizieren die Liebe mit der fleischlichen Lust. Andere glauben, dass die Liebe nichts anderes ist als eine Konsequenz unseres Selbsterhaltungstriebes, mit dem wir andere und uns selbst lieben, damit das Menschengeschlecht überleben kann. Wieder andere identifizieren die Liebe mit dem Gefühl, also mit dem, was wir im Herzen als Menschen einem anderen Menschen gegenüber empfinden, wenn wir glauben, ihn zu lieben. Dabei wird die Liebe ebenso oft mit der Leidenschaft verwechselt. Das alles sind Aspekte der Liebe, die im menschlichen Leben vorkommen können, zusammen oder getrennt voneinander. Doch wenn wir wirklich wissen wollen, wovon der heilige Paulus spricht und was das Wichtigste in unserem Leben ist, dann dürfen wir nicht mit menschlichen Definitionen der Liebe beginnen.

Zum richtigen Verständnis des Glaubens müssen wir wie immer von oben beginnen. Daher müssen wir zuerst die Gottesliebe betrachten. Dabei ist es ganz entscheidend zu sehen, dass diese Liebe auch als Tugend in unsere Herzen eingegossen ist, also nicht von uns hervorgerufen wird. Gott, so wissen wir aus der Offenbarung, hat uns zuerst geliebt (1 Jo 4, 19). Die Gottesliebe, die höchste Form der Liebe, ist zuallererst eine Bewegung des allmächtigen, dreifaltigen, liebenden Gottes auf die Menschheit zu. Er hat uns nicht nur aus dieser für uns im letzten unverständlich-selbstlosen Liebe heraus geschaffen und aus dem Nichts gerufen. Er hat uns dann auch mit dieser Liebe umgeben, für uns gesorgt, uns gezeigt, wie wir handeln sollen, um in Seinen Augen wohlgefällig zu sein. Als wir uns undankbar von dieser Liebe weggewandt hatten, war Seine Liebe so groß, dass Er uns wieder zuerst geliebt hat, dass Er uns retten wollte, dass Er als Zeichen Seiner Liebe selbst in diese Welt gekommen ist, dass Er dazu Seinen Sohn gesandt hat und dieser aus reiner Opferliebe am Kreuz zu unserem Heil gestorben ist. Nur dann können wir die Liebe und das Liebesgebot richtig und in seiner ganzen Tiefe verstehen, wenn wir sehen, dass alle Liebe, die diesen Namen verdient, eine Gnade Gottes ist und zuerst von Gott ausgeht.

So ist auch unsere Liebe nicht zunächst Gefühl. Sicherlich kann Gott uns Gefühlsgnaden schenken, damit auch unser Herz für ihn wie erwärmt ist und wir etwas spüren, wenn wir Akte der Gottesliebe setzen. Das tut Er vor allen Dingen am Anfang des Glaubens. So hilft er nicht selten jungen Menschen. Das kann er auch tun, wenn wir Glaubenszweifel haben und unser kleiner Verstand sich gegen Seinen Willen sträubt. So sagt Blaise Pascal in seinen Pensée nicht zu Unrecht: „Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt; man fühlt es auf tausenderlei Weise.“ Gott schenkt uns die Gefühlsliebe Ihm gegenüber, damit es uns leichter fällt, Ihn mit ganzem Herzen zu lieben. Das aber ist nur eine Hilfe Gottes von oben. Die Kirche unterstützt sie mit vielen zu Herzen gehenden Frömmigkeitsformen. Alle diese Herzenshilfen aber sind nicht der Kern der Liebe.

Die Liebe, die Gott in unser Herz gegossen hat, ist ein Geschenk der Gnade. Wir alle, die wir hier versammelt sind, haben dieses Geschenk empfangen. Es ist eine Gnade, die im Moment der heiligen Taufe in unsere Seele eingegossen wird. Deswegen brauchen wir als Getaufte die Liebe Gottes nicht zu schaffen. Wir haben sie bereits erhalten. Sie ist in unseren Herzen. Sie ist ein Geschenk, das wir nur durch die Todsünde verlieren, aber das wir durch die lässlichen Sünden kälter und kleiner machen können. Die göttliche Liebe will jedoch in unseren Herzen bleiben, und wie der heilige Franz von Sales immer wieder sagt, ist es unsere einzige Aufgabe, die Hindernisse für diese Gottesliebe, die uns schon gegeben ist, auszuräumen und diese Liebe in unserem Leben zu verwirklichen.

Deswegen ist die Gottesliebe nicht ein vorübergehendes Gefühl à la Hollywood, sondern sie hat ihren Sitz im Willen. Sie ist zunächst eine Entscheidung des göttlichen Liebenswillens, uns Seine Liebe im Sakrament der Taufe zu schenken. Danach bedarf es unserer gewollten Liebesantwort, die aus dem Glauben kommt, um diese Liebe zu leben, das Geschenk lebendig zu machen, das Feuer, das in unserem Herzen brennt, sichtbar und wärmend werden zu lassen. Die wahre Gottesliebe ist von uns aus gesehen ist nichts anderes als ein vollkommenes Ja unseres Willens zu Gott, zu Seiner Allmacht und Größe, zu Seinem göttlichen Willen, zu Seinen Geboten und damit zu Seinem Erlösungswerk durch Christus und die Kirche. Wenn Gott zu unserer Heiligung Prüfungen, Krankheiten und Sorgen zulässt, so ist es die Gottesliebe, mit der wir diese Kreuze annehmen können. Mit unserem ganzen Sein sollen wir Ja sagen zu Gott und allem, was er uns sendet: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dt 6,6).  Diese Liebe hat Gott selbst in der Taufe in unsere Seele gelegt, damit wir Ihn lieben können!

Der Gottesliebe folgt die Nächstenliebe. Der Herr selbst lehrt uns das in feierlicher Form: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Mk 12, 29-31).  Wie die Gottesliebe ist auch die Nächstenliebe, die aus der Gottesliebe hervorgeht und nicht ohne sie ganz gelebt werden kann, eine Art der Freundschaft. Gott hat uns seine Freundschaft geschenkt, damit wir seine Freunde sein können. Diese besondere Freundschaft können wir in der Gottesliebe nicht nur leben, wir können sie in der Nächstenliebe ebenso anderen weitergeben.

Deswegen ist auch die eheliche Liebe, die eine besonders erhöhte Form der Nächstenliebe darstellt, nicht in erster Linie Gefühl. Natürlich wird das Gefühl helfen, die eheliche Liebe zu leben, aber diese Liebe ruht im letzten auf der liebenden Treue des Willens: Treue zum Gebot Gottes und Treue zueinander. Das bedeutet in der Eh, seinen Willen dem anderen ganz zu geben und sich gegenseitig uns zu helfen, Gott mit dem ganzen Willen zu lieben. Diese Treue ist auch immer offen auf das Leben, dem die eheliche Liebe dient.

Die wahre Liebe, sei es die gegenseitige Liebe in der Ehe oder die Nächstenliebe zu denen, die uns nahestehen, zu unseren Kindern, zu unserer weiteren Familie, und zu anderen Menschen, die uns umgeben oder denen wir helfen sollen, ist deswegen immer auch eine Frage der Vernunft, die sich an dem Willen Gottes orientiert. Alles, was in der ehelichen Liebe oder in sonst irgendeiner Form der Nächstenliebe dem Willen Gottes entgegengesetzt ist und damit dem anderen schadet und wehtut, auch wenn es so aussieht, als würde seine Leidenschaft dadurch erfüllt werden, ist der Gottesliebe und der wirklichen Nächstenliebe entgegengesetzt. Die Liebe, auch wenn sie vom Gefühl des Herzens getragen wird, muss in erster Linie von den Geboten Gottes, so wie wir sie mit unserer Vernunft erkennen können, geleitet werden. Nichts, was den Geboten Gottes widerspricht, ist wirklich Liebe.

Deswegen müssen wir in unserem Leben das tun, was der Blinde im heutigen Evangelium getan hat: Wir müssen zu Christus gehen und Ihn bitten, uns sehend zu machen. Domine, ut videam (Lk 18, 42). Wir müssen dem Herrn sagen: Lass mich sehen, wo ich noch nicht die Tugend der Gottesliebe und der Nächstenliebe, die Du in mein Herz gesenkt hast, wirklich lebe. Fragen wir uns anhand des gerade gehörten Hohenliedes der Liebe des heiligen Paulus (1 Kor 13, 1-13), wo wir noch blind sind, wo wir unseren Willen noch nicht der Gottesliebe angepasst haben, wo wir noch egoistisch und klein sind? Fragen wir uns: Sind wir geduldig und gütig? Sind wir nicht neidisch? Prahlen wir nicht, blähen wir uns nicht auf? Sind wir nicht ehrgeizig, nicht selbstsüchtig? Lassen wir uns nicht verbittern? Denken wir nichts Arges? Freuen wir uns nicht über das Unrecht, sondern freuen wir uns an der Wahrheit? Ertragen wir alles? Glauben wir alles? Hoffen wir alles? Dulden wir alles? Das sind die dringendsten Fragen, die wir uns stellen müssen, wenn wir Gott und den Nächsten lieben lernen wollen.

Nicht dem Nächsten, der vielleicht auch nicht genug liebt, müssen wir diese Fragen stellen, sondern uns selbst. Diese Fragen zeigen jedem, dass er noch nicht genügend mit der eingegossenen Liebe in seinem Herzen mitarbeitet. Bitten wir also Gott, uns sehend zu machen und uns die aktuellen Gnaden zu geben, Ihn noch mehr zu lieben, das Ja unseres Lebens zu ihm noch deutlicher zu machen, auch dadurch, dass wir das Ja zur Hilfe und Liebe den anderen gegenüber besser und täglicher leben. Wenn wir das tun, wenn wir das Feuer der Liebe, das in unseren Herzen brennt, Wirklichkeit werden lassen durch tausend kleine Handlungen der Liebe, dann bringt die Liebe den Frieden hervor, der in unserem Haus, in unserer Umgebung und in unserer Familie beginnt.

Wenn es auch nur die kleine Geste des geduldigen Schweigens ist, der nicht beleidigten Reaktion und des nicht Widerredens, so wächst doch damit der Frieden der Gottesliebe. Im ganz unscheinbar Kleinen wird oft eine große Liebe sichtbar: Wenn wir auch nur mit einem guten Schweigen der Geduld auf weniger Gutes antworten, dann wird dieses geduldige Schweigen der Liebe uns schon helfen, die Stimme Gottes zu hören, der uns wie Petrus fragt: „Liebst du mich?“ Der Sinn unseres Lebens aber liegt darin, durch die Gnade Gottes mit Petrus immer ehrlicher in Wort und Tat antworten zu können: „Ja, Herr, ich liebe dich. Du weißt alles. Du weißt, dass ich dich liebe“ (Jo 21, 15-17). Amen