Predigt zum 6. Sonntag nach Pfingsten

Maria Engelport

Predigt 6. Sonntag nach Pfingsten

von Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.

‚Wunder gibt es immer wieder‘ – so hieß vor einigen Jahren der Titel eines ansonsten ziemlich dürftigen Schlagers. Wunder, in diesem oberflächlichen Sinn, wären Dinge, die uns zum Staunen bringen. Man könnte solche Vorkommnisse bestenfalls als ‚moralische Wunder‘ bezeichnen, wie etwa besondere, zunächst unerklärliche Ereignisse in unserem Leben, die man zu leicht als Wunder qualifiziert. Wenn wir aber vor einem wirklichen Wunder stehen, einem Wunder, so wie es uns heute in der Heiligen Schrift mit der wunderbaren Brotvermehrung durch den Herrn berichtet wird (Mt 8, 1-9), dann stehen wir vor ganz anderen Charakteristika, die das wahre Wunder erkennen lassen. Wir können dabei genau erkennen, dass Gott am Werk ist. Denn ein übernatürliches Wunder kann definiert werden als „ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen, das von Gott, außerhalb der gewöhnlichen Kräfte und Gesetze der Natur, zu einem bestimmten Zweck und Sinn bewirkt wird“.

Wir sehen die einzelnen Elemente dieser Definition heute auch am Wunder der Brotvermehrung. Wir können, wie auch die zahlreiche Menge bei der Brotvermehrung deutlich bezeugt, klar erkennen, dass es sich um eine sinnlich wahrnehmbare Tatsache handelt. Eine wunderbare Tatsache, die nicht nur durch Jesus Christus selbst in der Heiligen Schrift wenigstens zweimal bewirkt worden ist, sondern die sich auch in der Kirchengeschichte durch die Kraft Gottes und das Gebet der Heiligen öfter zugetragen hat. Auch hier in Maria Engelport: Während einer großen Hungersnot, als die selige Meisterin des Klosters, Margarete von Scharffenstein, in großem Gottvertrauen der Zellerarin gegen deren Bedenken gesagt hat, sie solle alles an vorhandenen Brotvorräten verteilen. Diese Brotvorräte versiegten nicht, bis alle Armen gespeist waren und doch für die Schwestern noch genug übrigblieb.

Wir merken, dass hier eine sinnlich wahrnehmbare Tatsache Gott als direkt wirkenden Autor zum Ursprung hat. Nur Gott kann eine solche Brotvermehrung bewirken. Nur Gott, auf die Fürsprache der Heiligen oder direkt, in Jesus Christus mitten unter uns wandelnd, kann Brot und Fische so vermehren, dass aus einer kleinen Menge von Nahrungsmitteln eine große Anzahl von Menschen gespeist wird. Hier werden alle Kräfte und Gesetze der Natur, die uns bekannt sind, durchbrochen, weil der Autor dieser Kräfte und Gesetze selbst am Werk ist. Alle Gesetzmäßigkeiten der Natur, die wir durch die Naturwissenschaft in ihrer unglaublichen Vielfalt und Verschiedenheit immer weiter entdecken, haben ihren Ursprung in Gott. Wenn Gott als Ursprung all dieser Kräfte und Gesetze in die von Ihm geschaffene und abhängige Natur einwirken will, dann kann er das jederzeit frei tun: Dann geschieht vor unseren Augen ein wirkliches Wunder.

Aber ein solches Wunder geschieht deswegen, weil Gott uns damit etwas nahebringen will. Jedes Wunder hat einen tiefen Sinn. Wenn Gott in die von Ihm selbst festgelegte Naturordnung eingreift, dann will Er uns zunächst einmal zeigen, wie bei der Brotvermehrung, dass Er in der Lage ist, Seine Göttliche Macht auf dieser Erde jederzeit auszuüben und zu demonstrieren. Er speist nicht nur zweimal, wie wir aus den Evangelien wissen (vgl. z.B.  Mk 6, 34ff., ebd. 8, 1ff), eine sehr große Menge mit wenigen Speisen, sondern Er zeigt auch ständig in Jesus Christus, dass Er die Allmacht auf sich vereinigt, dieses und viele andere Wunder zu tun. Er offenbart uns damit, dass Er die Natur und die ganze von Ihm geschaffene Welt niemals alleine lässt, sondern mitten in ihr wirken kann, wie es Ihm gefällt – zu unserem Heil.

Das Wunder der Brotvermehrung aber hat noch einen tieferen Sinn. Wir stehen hier, wie schon die Kirchenväter uns erklärt haben, vor dem Vorbild der Eucharistie. So wie Gott damals die Menge gespeist hat von wenigem, so speist er auf eine viel wunderbarere und viel geheimnisvollere Weise in einem sichtbaren Zeichen seit Beginn der Kirche eine immer größer werdende Menge mit Seinem Heiligen Leib und Seinem Heiligen Blut. Er kann, durch die gesamte Geschichte der Kirche hindurch, das Brot der Engel unbegrenzt vermehren. Nie wird es in Wahrheit geteilt, nie wird es weniger, nie wird es etwas Anderes. Es ist immer Leib und Blut des Herrn zu unserem Heil. Tausende, ja Abermillionen, sind damit gespeist worden und Tausende und Millionen haben durch die Barmherzigkeit Gottes mit dieser Speise das ewige Leben erlangt.

Das Zeichen der Brotvermehrung ist selbst im Detail ein Unterpfand für das Wirken Gottes in die Kirchengeschichte hinein. Wir können in der Heiligen Schrift lesen, dass von den Broten und Fischen Reste übrigblieben. Wäre es nicht normal gewesen, diese Reste den Menschen, die gerade gespeist wurden, zur Wegzehrung zu überlassen? Dagegen gibt der Herr ganz offensichtlich den Aposteln die Anweisung, die Reste aufzusammeln: In vielen Körben bleiben diese Reste bei den Aposteln, den ersten Bischöfen, den Vertretern der Kirche, die sie bewahrt haben. So wird die Eucharistie, die auf unseren Altären verwandelt und dann zum Teil an das gläubige Volk verteilt wird, nachher in den Tabernakeln der Kirche aufbewahrt, damit das Volk immer genug Speise zum übernatürlichen Leben hat. So können wir erkennen, dass der Herr unter uns gegenwärtig bleibt und wir wissen damit, dass die Allmacht Gottes und die Kraft Seiner lebendigen Speise uns unter dem Zeichen der ehrfürchtig aufbewahrten und angebeteten Eucharistie von nun an nie mehr verlässt bis zum Ende der Welt. Auch das war bereits vorgezeichnet in dem Wunder, das uns heute die Schrift berichtet.

Jedes Wunder des Herrn und der Heiligen ist so gottgewirktes äußeres Zeichen, mit dem Gott die sichtbaren Naturgesetze durchbricht und einen tiefen Sinn im Leben der Kirche offenbart. Am allerdeutlichsten wird das bei dem großen, dem allumfassenden Wunder der leiblichen Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, auf das sich heute der Heilige Paulus in seiner Epistel bezieht (Röm 6, 3-11). Auch hier erkennen wir einen tiefen Sinn. Denn dieses Wunder ist geschehen, damit wir wissen, dass wir gerettet worden sind. Es ist das Siegel der Erlösung! 

Durch dieses Wunder ist es uns ebenso möglich geworden, mit Christus zu sterben und in Christus aufzuerstehen. Weil der Herr in diesem, die uns bekannten Naturgesetze endgültig erschütternden Zeichen, allen gezeigt hat, dass Er der allmächtige Sieger über den Tod ist, dürfen wir wissen, dass Er auch anderweitig machtvoll in unser Leben eingreifen kann. Er wird uns nicht nur am Ende der Zeiten leiblich auferwecken, sondern Er kann auch jetzt schon in unser Leben einwirken. Er kann uns umwandeln! Er kann uns ein neues Leben schenken! Er gibt uns in der Eucharistie die Nahrung und das Unterpfand zu diesem neuen Leben und Er schenkt uns eine erneuerte Seele. Wir werden zu einem neuen Menschen! Er gibt uns neue Kraft von oben! Er ist so stark, dass auch die Sünde vor Ihm weichen muss.

So sehen wir, dass die Wunder, von denen uns die Schrift so reich berichtet und an denen die Kirchengeschichte nicht arm ist, uns immer auf ein Höheres hinweisen: Auf die Gegenwart des Herrn unter uns, auf Seine umgestaltende Macht in unserem Leben und darauf, dass wir uns auf Ihn verlassen können, was auch immer geschieht.  Denn Seine Kraft ist größer als Sünde, Tod und Teufel. Deswegen dürfen wir im Glauben bekennen, dass auf einer viel tieferen Ebene wahr ist, was wir am Anfang erwähnt haben: Wunder gibt es immer wieder! Gott hört nicht auf, wirkliche Wunder zu wirken, Wunder der Natur und Wunder der Gnade, wie Er nicht aufhört, die Menschen zu retten und zum ewigen Leben zu führen. Amen.