Predigt am 9. Sonntag nach Pfingsten, dem 30. Juli 2023, von Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Der Herr ist immer mild und geduldig. Wir sehen Ihn auch den größten Sündern vergeben, wir sehen Ihn mit großer Geduld alle Kranken heilen, die man Ihm bringt; selbst, wenn große Menschenscharen Ihn bedrängen, wenn Er mit dem Boot auf den See hinaus fliehen muss, wenn man das Dach abdeckt, um zu Ihm zu gelangen, Er bleibt geduldig, freundlich und mild. Wie kommt es dann, dass das heutige Evangelium (Lk 19, 41-47) zeigt, wie Er sich ganz offensichtlich von einem heiligen Zorn ergreifen lässt, in den Tempel geht, die Tische der Wechsler umwirft und die Tempelhändler aus dem Haus Seines Vaters treibt? Wie kommt es, dass Er die Geduld einmal richtig verliert und allen klarmacht, dass Er die Kraft hat, seine göttliche Macht zu offenbaren?

Wenn wir in die Heilige Schrift blicken, dann sehen wir, dass der Herr wirklich fast immer geduldig erscheint. Nur mit zwei Gruppen verliert Er ab und zu die Geduld: Nämlich mit den Schriftgelehrten, den alttestamentlichen Dienern Seines Vaters, und mit Seinen eigenen Jüngern, den neutestamentlichen Dienern des großen Gottes, der gekommen ist, um uns zu retten. Immer dann, wenn diese beiden Gruppen, die es doch besser wissen müssten, Gott nicht oder „immer noch nicht“ verstehen (vgl. Mk 8, 21), wenn sie dem Willen des Vaters entgegenhandeln, wenn sie zu menschlich denken, zu klein und zu kalkulierend, wenn sie sich in den Vordergrund drängen wollen, dann wird der Herr ungeduldig.

So begreifen wir auch, warum Er im Tempel ungeduldig wird, denn es geht um das Verständnis und die Wahrung der Ehre Seines Vaters: „Ihr habt das Haus meines Vaters zu einer Räuberhöhle gemacht“ (Lk 19, 46; Mk 11, 17; Mt 21, 13). Dazu müssen wir wissen, dass alles, was der Herr tut, Zeichen für uns sein soll. Alles, was wir in Worten und Taten an Seinem Leben ablesen können, ist Wahrheit und Offenbarung. Was Sein heiliger Zorn uns offenbart, sind die die beiden wichtigsten Gebote der Offenbarung, nämlich der absolute Vorrang Gottes und die daraus resultierende unbedingte Nächstenliebe.

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus ganzem Herzen, aus deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand und deinen Nächsten wie dich selbst.“, lehrt der Herr im 27. Vers des zehnten Kapitels des Lukasevangeliums.  Dieses erste und wichtigste Gebot betrifft die Ehre Gottes, die allem anderen vorausgehen muss. Wenn diese Ehre nicht gewahrt wird, dann verliert unser Herr die Geduld. In solchen Momenten zeigt Er mit deutlichen und klaren Worten, dass die „Zeit unserer Heimsuchung“ da ist, wie der heilige Paulus in der heutigen Epistel (1 Kor 10, 6-13) sagt, und wir „in den letzten Zeiten“ angekommen sind. Die Ehre Gottes muss immer gewahrt werden! Unser Gott ist, wie es im 34. Kapitel des Buches Exodus heißt, ein eifersüchtiger Gott: Sein „Name ist Eiferer“ (Ex 34, 14). Er liebt uns so sehr, dass Er uns nicht nur geschaffen hat, sondern sogar Seinen einzigen Sohn geopfert hat für unsere Rettung. Er liebt uns mit einer überwältigenden Liebe, jeden einzelnen von uns. Er sucht täglich neu nach uns mit eifersüchtiger Liebe. Er will nicht, dass wir lau antworten, dass wir gerade einmal das Notwendigste tun, etwa die Sonntagsmesse mit Langeweile besuchen, vielleicht noch bei Tisch, sowie morgens und abends, ein paar hastige Gebete murmeln, aber ansonsten „den lieben Gott einen guten Mann sein lassen“.

Nein, der eifersüchtige Gott will, dass wir Ihn mit unserem ganzen Herzen, mit unserer ganzen Seele und unserer ganzen Kraft und unserem ganzen Verstand lieben, dass wir an Ihn denken, dass wir Seine Gebote um unseres Heiles wegen halten, damit Er uns eines Tages mit Seiner unendlichen Liebe ganz umfassen kann, die uns nie mehr verlassen wird. Deswegen sollen wir alles tun, damit die Ehre Gottes in unserem Leben gewahrt wird. Wir müssen zuerst Gott dienen, Seine Verehrung fördern, die Liturgie zu seiner Ehre regelmäßig mitfeiern, andere dazu einladen, täglich andächtig beten, Ihm wirklich Zeit in unserem Leben einräumen! Wir sollen alles, was wir tun, im Kleinen und im Großen, am Maßstab Seiner Liebe messen, denn Er will von uns geliebt werden, mit ganzem Herzen, mit unserer ganzen Seele, unserer ganzen Kraft und unserem ganzen Verstand, nicht mehr und nicht weniger. Er will uns ganz!

Deswegen dürfen wir keine anderen Götter neben Ihm haben, wie immer diese Götter heißen. Ob es der Gott des Egoismus ist, der Gott unseres eigenen, aufgeblasenen und wichtigen Ich, ob es der Gott des Geldes und des Geizes ist, ob es der Gott der Wichtigtuerei und Hoffart ist, oder der Gott des Neides, der Missgunst, der bösen Lust, des Zorns und der Lüge: All diese falschen Götter, all diese Götzen müssen wir durch ein Leben mit den heiligen Sakramenten der Kirche und vor allen Dingen durch die regelmäßige heilige Beichte von ihren Sockeln stürzen, damit auf dem Thron unseres Herzens nur der eine wahre Gott Seinen Platz findet.

Wir dürfen ebenso nicht vergessen, dass wir das Gebot der Nächstenliebe ohne das Gebot der Gottesliebe nicht leben können. Wir können uns schon nicht richtig selbst lieben, wenn wir Gott nicht lieben, denn dann werden wir Seine Gebote nicht halten und uns dadurch selbst Schaden zufügen. Wir müssen, um uns selbst in unserer Würde zu verstehen, um als Mensch, so wie Gott uns geschaffen hat, aus unserer Natur heraus und mit der Gnade zu leben, um wirklich im Vollsinn Menschen zu werden, Gott um Seine Gnade anflehen und Seine Vergebung suchen. Man kann sich nicht selbst ohne Egoismus lieben, wenn man nicht Gott auf den Thron seines Herzens gesetzt hat; viel weniger noch kann man den Nächsten lieben, denn der Nächste ist, wie wir alle, oft um seiner selbst willen nicht liebenswert.

Wenn wir Gott nicht lieben, wenn wir den Nächsten nicht um Gottes Willen lieben, wenn wir nicht den für uns gekreuzigten Gottmenschen vor Augen haben, wenn es uns schwerfällt, einem anderen zu vergeben oder wieder mit ihm zu sprechen, dann werden wir nicht die Kraft haben, den Nächsten zu lieben wie uns selbst. Nächstenliebe ohne Gottesliebe trägt ihren Namen zu Unrecht, denn sie ist nur humanitärer Aktivismus und oft genug bloß Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung, wenn nicht gar Heuchelei und Lüge. Um den nächsten von Herzen um Gottes willen zu lieben, ist es nötig, im Tempel unseres Herzens zunächst alle Tische der Wechsler umzuwerfen, die Händler herauszutreiben, also Kalkül und Vorteilsdenken abzulegen, und den Gott unseres kleinen Ichs auf dem Thron unseres Herzens durch den großen Gott der selbstlosen Liebe zu ersetzen.

Nun begreifen wir ebenso, dass Gott mit Seinen Dienern, den Schriftgelehrten und Jüngern, noch strenger verfährt! Er wird immer von denen, die sich Seinem Dienst direkt verschrieben haben, eine größere Gottesliebe einfordern. Denn Er hat ihnen eine größere Erkenntnis und Liebe schenken wollen, er hat sie erwählt. Vor allem für die Jünger und Apostel gilt, was der Herr Ihnen zusichert: „Freunde habe ich euch genannt“ (jo 15, 15). Wenn deswegen für uns alle gilt, dass wir die Ehre Gottes wahren müssen, wenn für alle gilt, dass Gott mit liebenden und eifersüchtigen Augen auf sie blickt, wenn für alle bereits gilt, dass sie keine anderen Götter, vor allen Dingen nicht den Gott der Welt, der Lust und des Mammons verehren dürfen, wenn für alle gilt, dass sie die Nächstenliebe um der Gottesliebe willen leben müssen, wie viel mehr gilt das für die Apostel, für ihre Nachfolger und für alle Priester! Vereinen wir uns daher mit der ganzen Kirche im Gebet, damit alle Verblendung von den Augen der Diener Gottes genommen wird, damit sie sehen, dass die „Zeit der Heimsuchung“ gekommen ist und wir „in den letzten Tagen“ leben, damit sie sich nicht der Welt anpassen und statt Gott auf dem Thron ihres Herzens Götzen anbeten. Beten wir mit der Kirche jeden Tag für die Jünger, die sich der Herr erwählt, um sein Volk zu leiten und zu heiligen. Opfern wir für unsere Bischöfe und Priester, machen wir ihnen durch unser eigenes Leben klar, dass Gott an die erste Stelle gehört, damit er nicht die Geduld mit Ihnen verlieren muß!

Die Heilige Jungfrau hat den Aposteln Mut gemacht, nachdem diese allen Mut und wohl auch den Glauben verloren hatten. Wir sollen es Ihr nachtun! Nicht durch Schimpfen und Anklagen, sondern durch das Beispiel eines ganz der Ehre Gottes geweihten Lebens werden wir allen klarmachen, dass seit Christi Geburt die „Zeit der Heimsuchung“ gekommen ist und dass „die letzten Zeiten“ begonnen haben. Wenn wir das tun, dann wird die Ehre Gottes in der Kirche, in der Welt und in unseren Herzen wieder den gebührenden Platz einnehmen. Dann wird Gott nicht zornig werden müssen und nicht die Geduld mit uns verlieren, sondern uns, obwohl wir Sünder sind, jene Barmherzigkeit zeigen, die denen gebührt, die Gott ehren. Amen.