Predigt vom 5. Sonntag nach Pfingsten, dem 2. Juli 2023, Von Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Krieg und Kampf, Streit und Auseinandersetzungen sind seit dem Sündenfall an der Tagesordnung; nicht nur zwischen Staaten, nicht nur in der Geschichte, sondern leider auch oft in unserem persönlichen Leben. Zwietracht, Hassgefühle, Abneigungen, all diese Dinge hat jeder Einzelne von uns erfahren und darunter gelitten. Deswegen gibt es oft auch in unserem Herzen einen Kampf zwischen dem, was wir für die Gerechtigkeit halten, und dem, was Gott uns als Barmherzigkeit anempfiehlt. Einen Kampf zwischen der Vergeltung, die wir denen antun möchten, die uns Böses getan haben, und der Notwendigkeit, jedem zu verzeihen. Selbst wenn wir alle als Christen wissen und wollen, dass wir die Verzeihung leben sollen und müssen, so ist es doch ein Kampf für uns, von diesem Wissen zum Tun der Verzeihung zu gelangen.

Deswegen wollen wir an diesem Tag, an dem uns der Herr im Evangelium die Verzeihung besonders ans Herz legt, fünf Gründe unter vielen anderen betrachten, die es wichtig und möglich machen zu verzeihen, auch wenn es uns schwerfällt, das Gebot der verzeihenden Nächstenliebe zu verwirklichen.

Der erste Grund liegt im Heilswillen Gottes: Nichts könnte klarer sein als das göttliche Gebot, jedem von Herzen zu verzeihen. Wir beten täglich das Vaterunser, das Gebet, das der Herr Selbst Seinen Jüngern und der ganzen Kirche aufgetragen hat, um den Willen des Vaters erfüllen zu können: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 16, 12). In den Gleichnissen des Herrn wird ebenso immer wieder von der notwenigen Verzeihung gesprochen: Der Vater, der dem unbotmäßigen Sohn von Herzen verzeiht (Lk 15, 11 ff.); die verlorene Drachme, deren Wiederauffindung die Freude des Verzeihens bringt, denn sie ist nichts anderes bedeutet als eine verlorene Seele (Lk 15, 8 ff ); das Schaf, das der Hirt von weit herholt, obwohl es sich verlaufen hat, obwohl es ihm Sorgen gemacht und ihm weh getan hat. Der Herr sucht es, bringt es wieder in den Stall zurück und verzeiht ihm von Herzen (Lk 15, 1 ff.) Der Herr verzeiht auch dem größten Schuldner und wird erst zornig, als dieser die geringere Schuld nicht vergibt. In diesen und in vielen anderen Gleichnissen spricht der Herr von der Verzeihung und macht sie zu einem wichtigen Zeichen der Nächstenliebe.

Der Herr wird noch deutlicher dem Petrus gegenüber, wenn er sagt: „Nicht siebenmal sollst du verzeihen, sondern siebzigmal siebenmal.“(Matth.18,21) Auch im heutigen Evangelium sind seine Worte unmissverständlich: „Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und dir dort einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe dort vor dem Altar; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder“ (Matth.5,23).  Niemand kann nun noch sagen, daß Gott die Unversöhnlichkeit bestärkt oder auch nur toleriert. Die Offenbarung des Heilswillens Gottes ist offensichtlich: Wir sollen immer, jederzeit und allen verzeihen!

Darüber hinaus gibt es noch einen zweiten Grund immer zu verzeihen. Nicht nur der geoffenbarte Wille, auch das Handeln Gottes zeigt uns, dass wir verzeihen müssen, weil auch uns verziehen worden ist. Wie oft hat der Herr uns Sündern verziehen! Wie oft haben wir uns in der hl.  Beichte anklagen müssen wegen der gleichen Fehler und Sünden!  Jedes Mal jedoch wird uns durch die große Barmherzigkeit Gottes die Lossprechung erteilt. Der Herr hat sogar Seinen letzten Blutstropfen dafür hingegeben, damit uns Sündern verziehen werden kann, da alle Sünde, die in der Beichte bekannt und bereut wird, durch Sein Blut getilgt ist. Wenn der Herr uns immer wieder auch unsere größten Sünden verzeihen kann, wie sollten wir nicht verzeihen? Wenn Gott uns sagt: „Und wären eure Sünden rot wie Scharlach, Ich mache sie weiß wie Schnee“ (vgl. Is 1, 18), wie sollten wir die kleinen und großen Ungerechtigkeiten, die man uns antut, nicht ebenso vergeben und vergessen!

Ein dritter Grund zur Verzeihung liegt darin, dass immer dann, wenn wir beleidigt worden sind, immer dann, wenn man uns Unrecht angetan hat, wir diesen Moment im Licht der Ewigkeit betrachten sollen. Was ist das alles, kleine oder große Ungerechtigkeiten, Beleidigungen, Streitigkeiten oder Unverständnis im Lichte der Ewigkeit? Eines Tages werden wir vor unserem ewigen Richter stehen, der für uns gestorben ist, um uns alles verzeihen zu können. Ihm wollen wir wirklich sagen: Mein Nachbar hat einen Zweig vom Baum in meinem Garten abgeschnitten und deswegen habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen? Jemand hat mich dumm angeredet und deswegen habe ich ihm in meinem Herzen Böses gewünscht? Meine Verwandten haben mir mein Erbe vorenthalten und deswegen spreche ich heute noch nicht mit ihnen? Dann wird der Herr wohl sagen: „Sieh die unendliche Ewigkeit vor Dir, sieh Mich an in Meiner Majestät am Kreuz, sieh das Leiden, das ich für Dich ertragen habe, und du willst nicht verzeihen?“

Als vierten Grund zur Verzeihung sollen wir noch bedenken, wenn uns das Verzeihen schwerfällt, dass wir ebenso Sünder sind wie derjenige, der uns Böses antut und dem wir verzeihen müssen. Wir dürfen uns nicht vergleichen und hochmütig für besser halten, denn jede unserer Sünden wiegt schwer vor dem Angesicht Gottes. Wenn uns trotzdem verziehen wird, warum sollen wir dem anderen, der ebenso Sünder ist wie wir, nicht ebenso verzeihen? Wenn wir die Verzeihung zurückhalten, dann machen wir uns besser als er; wenn wir nicht von Herzen verzeihen wollen, dann denken wir, wir stünden über ihm. Aber in Wirklichkeit sind wir nicht besser, in Wirklichkeit sind wir ebenso Sünder, vielleicht sogar noch mehr durch unseren Dünkel und unsere Überhebung. Deswegen sollen wir die Demut haben, uns immer wieder gegenseitig verzeihen.

Denken wir schließlich an einen fünften Grund: Selbst, wenn uns eine Ungerechtigkeit widerfährt, selbst, wenn man uns Böses antut oder eine unschöne Bemerkung uns gegenüber macht, haben wir es in Wirklichkeit nicht alles verdient? Wir haben vielleicht nicht diese konkrete Bemerkung, vielleicht nicht diese konkrete Unliebsamkeit und diese konkrete Handlung gegen uns verdient. Aber hätten wir nicht viel Schlimmeres verdient, wenn wir uns mit den Augen Gottes sehen müssten? Was ist mit all den verborgenen Verfehlungen, die nur Gott sieht? Was ist mit der Selbstgerechtigkeit und dem Hochmut unseres Herzens? Was mit den vielen Unterlassungssünden? Was mit der inneren Auflehnung und der Rechthaberei Gott gegenüber? Weil wir alles das wiedergutmachen sollen, nehmen wir Ungerechtigkeiten, böse Bemerkungen, Verletzungen zur Sühne für unsere Sünden; deswegen verzeihen wir allen und sagen dem Herrn: So wie Du unsere Sünden angenommen und sie alle getragen hast, so will ich zur Sühne für meine Sünden diese Ungerechtigkeit und dieses Leiden annehmen und dem, der es mir angetan hat, nicht nur von Herzen verzeihen, sondern ihm gleichsam dafür danken, dass er mir die Gelegenheit gibt, Sühne zu leisten für meine eigenen Sünden.

Denken wir also immer an diese fünf Gründe zur Verzeihung: 1) Es ist der klare Wille Gottes, immer wieder ausgedrückt in der Offenbarung, dass wir allen verzeihen. 2)Der Herr verzeiht uns immer wieder und hat uns in Seinem Blut von unseren Sünden erlöst aus großer Barmherzigkeit. 3) Im Licht der Ewigkeit sind alle Beleidigungen und alle Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren, nichts. 4) Wir sind alle Sünder, und deswegen sollen wir Verzeihung schenken und annehmen, 5) auch damit wir unsere Sünden wiedergutmachen und Sühne leisten können.

Wenn wir nicht mehr oder noch nicht zu unserem Bruder hingehen können, um ihn um Verzeihung zu bitten oder ihm unsere Verzeihung zu schenken, weil vielleicht die Kluft durch die Jahre zu tief geworden ist, dann ist ein bleibendes Zeichen der ehrlichen Verzeihung, täglich für diejenigen zu beten, die uns Unrecht angetan haben. Damit zeigen wir Gott, dass wir ihnen verzeihen wollen und schon verziehen haben.

Wenn es uns aber schwer fällt zu verzeihen, wenden wir vertrauensvoll uns an die Gottesmutter!  Ihr sind im Leben viele Ungerechtigkeiten geschehen und zahlreiche grausame Bosheiten zugefügt worden. Schließlich hat man ihren einzigen geliebten Sohn getötet und am Kreuz zum Schandmal aller gemacht. Und doch hat sie nicht Vergeltung verlangt, sondern hat von Herzen allen verziehen. Sie ist für uns das große Beispiel der Verzeihung, das wirksame Beispiel der vollkommenen Vergebung allen auch noch so harten Unrechts. Nehmen wir bei ihr Zuflucht; bitten wir sie, durch ihre Fürbitte mit der gleichen Großzügigkeit und der gleichen Barmherzigkeit, der gleichen Herzensliebe wie sie, allen verzeihen zu lernen, damit wir dem großen Gebot des Herrn „Liebt einander, wie Ich euch geliebt habe“ (Jo 13, 34; 15, 12) durch eine wirkliche, aufrichtige Herzensverzeihung jeden Tag gerecht werden können. Amen.